Dem eigenen Leben auf der Spur
gereist.
Aber ich kenne sie immer noch nicht selbst. »Sie ist mir seit längerem immer ein bis zwei Tage voraus«, antworte ich endlich. »Sieht sie wirklich so gut aus?«, schiebe ich hinterher und zeige auf ihr Passfoto.
»O ja, sehr«, schwärmt der Herbergsvater, der nicht mehr der Jüngste ist, jetzt aber leuchtende Augen bekommt. »Sie ist groß, schlank, mit sehr langen blonden Haaren und blauen Augen. Außerdem lächelt sie permanent.«
»Sollte ich sie treffen, sage ich ihr, dass hier ihr Ausweis liegt. Mit diesem Gesprächsaufhänger kann eigentlich gar nichts mehr schief gehen«, füge ich hinzu. Peter hatte mich aufgeklärt, dass sie gemeinsam mit einem Mann wandert. Wer weiß — vielleicht ist diese Geschichte schon wieder vorbei? Heißt es nicht, ein intensiv erlebter Tag auf dem Jakobsweg gleiche einem Monat im normalen Leben?
Zentraler und geschichtsträchtiger hätte ich in Salamanca nicht übernachten können. Von meinem Bett aus blicke ich auf den Liebesgarten, Huerto de Calixto y Melibea. Fernando de Rojas hat ihn mit »La Celestina«, einem der bekanntesten und größten Werke der spanischen Literaturgeschichte, unsterblich gemacht. Der verliebte Jüngling Calixto stürzt in selbstmörderischer Absicht von der Leiter und stirbt. Seine Angebetete, Melibea, ist über den Tod ihres Verehrers so entsetzt, dass sie ihrem Leben ebenfalls ein Ende setzt.
Mitten in der Nacht wache ich auf. Meine rechte Hand fühlt sich wie ein Fleischkloß an, ein Klumpen, der stark kribbelt. Mein Hausarzt in Frankfurt hatte bereits vor der Reise eine Entzündung im Unterarm, einen so genannten Tennisarm, diagnostiziert. Er hatte mir eine Sportsalbe verschrieben und als letzte Lösung eine Operation angedroht. Dann sprach er noch davon, dass die motorischen Defizite nicht zu stark werden dürften...
Habe ich die nicht schon längst? Bilde ich mir nur ein, dass sich Daumen und Zeigefinger nicht mehr richtig fest aneinander pressen lassen? Mit vier tauben Fingern kann ich nicht einmal mehr mein Hemd zuknöpfen. Meine Finger gehorchen plötzlich vollkommen träge und übermitteln keine sensorischen Reize mehr ans Gehirn.
Viele Touristen würden sehr viel Geld zahlen, um in dieser geschichtsträchtigen Herberge zu nächtigen. Als Pilger darf man es.
War ich in Fuenterroble bei Don Blas in den vergangenen Tagen noch sicher gewesen, Santiago zu erreichen, überkommen mich heute Nacht größte Zweifel. Mein rechter Arm ist der kräftigere von beiden, mit ihm bewege ich mich zu einem größeren Anteil vorwärts. Schwierige Bergpassagen kann ich gleich vergessen, wenn er nicht voll einsatzfähig ist. Ohne diesen Antrieb komme ich niemals irgendwo an.
Hier in Salamanca ist exakt Halbzeit, vor mir liegen jetzt noch 500 Kilometer, 300 Kilometer davon führen durch das gebirgige Galicien. Zu Hause habe ich mir geschworen, dass ich mit dieser Reise auf keinen Fall meine Gesundheit aufs Spiel setze. Tue ich es bereits? Übertreibe ich, wenn ich entschlossen bin, Tag für Tag aufs Neue alles in eine Waagschale zu werfen?
Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand, so das Sprichwort, ich ergänze: »Eigentlich immer, besonders auch auf dem Jakobsweg.«
Am Morgen werfe ich eine Spende in die mit Donativo gekennzeichnete Blechbüchse der Herberge. Intuitiv weiß ich, dass alles gut und der Weg für mich noch lange nicht zu Ende ist. Selbst in Momenten des Zweifels kann sich meine innere Stimme Gehör verschaffen und mir Mut machen. Es gibt die Wunder des Jakobswegs, und wenn meine innere Stimme mir zur Fortsetzung rät, dann kann der Ausgang nur perfekt sein. Darauf kann ich vertrauen, so viel ist sicher!
Du musst jetzt unter Belastung heilen, rede ich meiner verletzten Hand gut zu. Da ich nicht bereit bin, die Ursache für den Schmerz abzustellen, nehme ich die Wirkung an. »Learn the lesson and move on«, rief uns der schwarze Reverend Randolph in Charlotte, North Carolina, immer zu. Lamentieren hilft weder dir noch deiner Umwelt. Im Gegenteil.
Ich massiere die Hand, es schmerzt wie unter tausend Nadelstichen. Über die Hand zieht sich ein schwarzer Streifen, der Abdruck des Reifens, den ich am Tag 20 000 Mal berühre. Zwei Meter pro Antrieb.
Eigentlich humple ich, nur dass es nicht wie Humpeln aussieht, der Rollstuhl läuft gleichmäßig. Die rechte Hand berührt die Greifreifen nur zögerlich, so ähnlich, wie wenn ich auf zwei Beinen gehend mit einem lädierten Fuß weniger fest auftrete, um
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