Dem eigenen Leben auf der Spur
machen«, klopft mir ein Unbekannter im Supermarkt auf die Schulter. Aus einem zwei Meter hohen Regalfach fische ich nach einem Marmeladeglas, indem ich es mit einem Karton Cornflakes, der gerade griffbereit im Nachbarregal steht, am Deckel berühre und über die Kante schiebe, um es in freiem Fall direkt in dem auf meinem Schoß platzierten Einkaufskorb landen zu lassen. »Menschen wie Sie geben unheimlich viel Kraft.«
Was projizieren Menschen in mich hinein? Ich habe lediglich die Entscheidung getroffen, weiterzuleben und, wie beim Kartenspiel, die Hand, die mir der Croupier gegeben hat, zu spielen. Meine Situation ist neutral, entscheidend ist, was ich daraus mache.
»Ich glaube, du hast noch kein wirkliches Verständnis von der Außenwahrnehmung von Behinderten«, erklärt mir einmal ein 50-jähriger Rollstuhlveteran, der von Geburt an gelähmt ist. »Du ziehst eine Show ab, als ob du gar nicht im Rollstuhl sitzen würdest oder gar nicht wüsstest, wie das auf andere wirkt. Niemand will etwas mit einem Krüppel zu tun haben.«
Ich widerspreche ihm heftig. »Ich bin nicht behindert. Vielleicht habe ich einmal im Leben Pech gehabt, aber deshalb lasse ich mich doch nicht davon abbringen, weiterzumachen und ein erfülltes Leben zu haben.«
»Keine Frau ohne Helfersyndrom lässt sich auf Behinderte ein«, faucht er mich an.
Ich bin verwirrt. Was stimmt? Ist der Mann mit seinem Leben mit Behinderung so frustriert, oder will er mich provozieren, oder mache ich mir vielleicht etwas vor? Sogar meine Freundin verblüfft mich, als sie mir erklärt, dass es einen Rollstuhlabzug bei der B-Note — dem Aussehen — gebe. Natürlich würde sie bei mir überhaupt nichts abziehen, wie sie gleich versichert.
Seltsam, solche Gespräche musste ich in den USA nie führen. Dort war lediglich immer die unausgesprochene Frage, ob man’s im Bett noch bringt. Wenn das geht, ist der Rest auch nicht weiter tragisch...
Das eigentlich Mühsame besteht darin, immer wieder beweisen zu müssen, mindestens genauso gut zu sein wie der Wettbewerber ohne Rollstuhl neben mir. Nie habe ich die Worte des Chefarztes in Bad Wildungen vergessen: »Jetzt werden Sie behandelt wie eine Frau, das heißt Sie müssen mindestens promovieren.«
Egal wie sehr ich kämpfe, nie befinde ich mich auf Augenhöhe. Im übertragenen Sinn, aber auch im wörtlichen. Wie oft wird eine Antwort auf eine von mir gestellte Frage, zum Beispiel an einem Schalter bei der Bahn, an die Person gegeben, die neben mir steht und automatisch als zu mir gehörend interpretiert wird.
Meine Freunde sind wenigstens schon so konditioniert, dass sie schulterzuckend dann auf mich verweisen, schließlich bin ich der Fragesteller und kann mit der Antwort sicher am meisten anfangen.
Freilich weiß ich, dass auch ich vor meinem Unfall nie junge Rollstuhlfahrer wahrgenommen habe. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages kurz einen Freund in der Stadt treffen wollte, aber absolut jeder Parkplatz nahe der Fußgängerzone belegt war. Nur die mit einem Rollstuhlsymbol waren frei. Ich parke ja nur ganz kurz, dachte ich mir, obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte. Als ich wiederkam, war der Wagen abgeschleppt. Seither denke ich, unberechtigtes Parken auf diesen Flächen bedeutet Unglück.
»Weißt du, warum wir beide in der Rollstuhlszene nicht akzeptiert werden?«, frage ich einmal einen Bekannten, der sich überaus stark für Menschen mit Behinderungen engagiert, jedoch selbst bis auf drei Bypässe keine sonstigen körperlichen Defizite hat. »Du wirst nicht akzeptiert, weil du nicht im Rollstuhl sitzt, und ich nicht, weil mein Kopf nicht Rollstuhl fährt, sondern fliegt.«
»It matters where your head is at«, rief Paul Stanley, der Sänger von Kiss, seinen Fans bei einem Konzert zu. Er ist frei.
Camino Love
Ein Bauer winkt mich zu sich und schenkt mir eine Wassermelone. Schon seit einiger Zeit laufe ich an Feldern, übersät mit fußballgroßen Früchten, entlang. Die Versuchung, mir einfach eine zu nehmen, war groß, aber da ich nicht leicht in das Feld hineingekommen wäre, habe ich widerstanden.
Umso dankbarer verschlinge ich die Melone in der prallen Sonne, mitten auf dem Weg. Die Klinge des Schweizer Taschenmessers ist zu klein, ich muss die Melone aufbrechen. Sie ist innen kühl, sie hat die Temperatur der Nacht konserviert. Erstaunlich wenig süß löscht sie sofort den Durst und stillt den Hunger. Frischer als hier kann sie nicht sein.
Nur ein paar Minuten
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