Dem eigenen Leben auf der Spur
dachte dabei an die Worte von Nikki Sixx von Motley Crüe, der sagt: »Ich habe Musik gehört, gemacht, gefühlt und sie mir in die Venen gespritzt.«
Ich war nicht bereit, dieses Lebensgefühl aufzugeben. Wofür auch?
In der Dunkelheit nehme ich die letzten Kilometer in Angriff und esse, während ich am Straßenrand vorwärts rolle, Schinken und Brot, die ich auf dem Schoß liegen habe.
An einer Tankstelle sehe ich schemenhaft einen Kompressor unter dem Schild »Aire« stehen. Das ist meine Chance, endlich wieder 6.5 Bar Luftdruck in die Reifen zu pressen. Ein Blick auf den Druckmesser verrät mir, warum sich die Reparaturen in den letzten Tagen häuften. 4 Bar sollten laut Herstellerangabe mindestens in die Reifen hinein, mit meiner Handpumpe hatte ich diesen Wert aber bei weitem nicht erreicht. Mit harten Reifen fährt der Rollstuhl plötzlich wie von selbst die Straße hinab!
In finsterer Nacht erreiche ich Mombuey. Beim Eintreten in eine Bar bemerke ich, dass die Guardia Civil mir unauffällig gefolgt ist. Der Polizist wendet sich erst ab, als ich freudestrahlend Roberto und Maria begrüße. Beide haben längst nicht mehr damit gerechnet, mich wiederzusehen.
»Es un angel«, er ist ein Engel, erklärt Roberto einem englischen Fahrradpilger in der übervollen Kneipe, in der wir aufeinander treffen.
Ist es wirklich ein Wunder, dass ich es bis hierhin geschafft habe? Was stimmt ist, dass ich meiner inneren Stimme heute tatsächlich noch resoluter als sonst gefolgt bin. Schon vor dem Aufstehen war mir klar: Ich werde heute bis in diesen nächsten Ort gehen, auch wenn das heißt, dass ich bis an meine Grenze gehen muss. Über viele Tage habe ich mich stark fordern müssen, um überhaupt zur nächsten Herberge zu gelangen, heute wusste ich intuitiv, dass die Mühe belohnt würde.
Immer wenn ich meiner Intuition folge, habe ich das Gefühl, einen Auftrag zu erfüllen, der sich perfekt in das große Ganze einfügt. Und zum einen ist dann das Resultat besonders großartig, zum anderen scheint sogar die Anstrengung geringer zu sein. »Dein Joch ist sanft und deine Last leicht.« Mit dem Gefühl, das Richtige zu tun, ist jeder stark, und mit einem klaren Ziel vor Augen fast unbesiegbar.
Roberto und Maria unterhalten sich blendend mit dem Engländer, obwohl keiner die Sprache des anderen richtig beherrscht. Mike, ein breitschultriger Mann mit typisch britischem Aussehen, fährt den Camino mit seinem Tourenrad inklusive eines kleinen Gepäckanhängers. An seinem Fahrradlenker hat er eine rote Plastikrose befestigt.
»Für mein Herzchakra«, erklärt er kurz. Weder als Soldat noch als Fliesenleger wurde er bisher so richtig glücklich, jetzt erhofft er sich von der freien Zeit Klarheit über seine wahre Aufgabe im Leben.
Er zeigt mir eine Tai-Chi-Übung für meine schmerzenden Hände und Handgelenke. Ich soll mir vorstellen, wie ich durch meine Finger Luft in meine Hände und Arme hineinsauge und sie dann durch Klopfen auf die Haut in die Sehnen und Gelenke »drücke«. Nach einer Weile meine ich tatsächlich zu spüren, dass die Schmerzen geringer werden.
Nach einem ausgiebigen Menü machen wir vier uns gemeinsam auf den Weg in die Herberge, die nur einen Steinwurf von der Bar entfernt liegt.
Perfekter hätte die Unterkunft nicht ausgestattet sein können, alles ist stufenlos erreichbar. Das Bad ist so geräumig, dass wir alle gleichzeitig darin Platz haben würden. Als ich aus dem Bad komme, ist das Licht schon aus und die anderen schlafen schon fast.
Es gibt genau vier Betten in dem Raum, meines steht direkt unter dem offenen Fenster. Wenn ich über mich schaue, kann ich die Sterne sehen. Kühle Nachtluft fällt auf mein Gesicht.
Missverstandene Romantik
Der Boden ist vom Regen der Nacht aufgeweicht und es fällt mir sehr schwer, den heimeligen Ort zu verlassen. Mombuey ist ein Ort der Templer. Diese Plätze haben immer eine besondere Energie und genießen einen großen geistigen Schutz. Mag sein, dass das nur Einbildung ist, aber auch auf dem Camino Francés habe ich die wohltuende Atmosphäre, die diese Orte ausstrahlen, mehrfach gespürt. Der Schlaf ist dort immer besonders tief und erholsam.
Vielleicht fällt mir der Abschied auch so schwer, weil ich weiß, dass der Wanderpfad für mich heute unpassierbar ist, Tai-Chi hin oder her. In dem kleinen Laden neben unserer Herberge kaufe ich schwarzen Schinken und Käse. Am liebsten würde ich hier bleiben, aber dann wären Roberto und
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