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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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den Bogen überspannt. Für mich kommt sein Ausbruch aus heiterem Himmel. Maria sitzt stumm daneben, aber an ihrer Haltung merke ich, dass sie ihm recht gibt. Ich bereue, meiner inneren Stimme nicht gefolgt zu sein, und muss erkennen, dass ich ohne Hilfe von zahllosen Menschen tatsächlich niemals hier angekommen wäre.
    Ich gebe Roberto recht. »Wahrscheinlich kann ich mir gar nicht vorstellen, dass es für gehende Menschen auch anstrengend ist, auf diesem Weg voranzukommen. In meinem Kopf wäre das Gehen auf eigenen Füßen ein Traum, das Gehen fühlt sich dabei ganz leicht an. Aber ich hoffe, du denkst nicht, dass ich egozentrisch bin. Das würde mich treffen.«
    »Ist schon gut. Ich bin Spanier, und nachdem ich es dir gesagt habe, ist alles wieder gut.«
    Er setzt sich auf seine Pritsche, stellt die Dose Bier vor sich auf den Boden und kramt aus dem Rucksack eine Blockflöte hervor. Melancholische Klänge in gedämpftem Licht. Mit gleichmäßiger Miene, in sich versunken, spielt er.
    Wir sind gemeinsam weit weg, irgendwo in einem Land, wo es sich trotz Regen und Schmerz lohnt, den nächsten Tag mit Freude im Herzen willkommen zu heißen.
     

    Die Darbietung lässt uns das Leben für eine Weile vergessen
     
    Als ich im Bett liege, danke ich Roberto für die eindrucksvolle Lektion. Die Hilfe und die Geschenke, die ich bis hierhin erhalten habe, sind alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Sie kommen immer zur richtigen Zeit und perfekt dosiert. Mit einem Lächeln voller Gewissheit, dass alles gut ist, falle ich in einen süßen Traum.
    Ohne Gepäck wandere ich darin durch die schottischen Highlands, bin mir aber nicht wirklich sicher, ob es sich dabei nicht um Galicien handelt. Hügelige Landschaft, neblig und grün, nicht unangenehm kalt. Alles geht leicht von der Hand, und ich habe das Gefühl, dass mein ganzer Körper voller Licht strahlt. Wie viel mehr Kraft doch ein Bein hat, verglichen mit einem Arm. Als ob meine Füße den Boden gar nicht berührten, gehe ich querfeldein auf einen Hügel zu. Ich bin glücklich.
    Träume ich oder wache ich? Ich liege hier im Zimmer im Bett und möchte aufstehen. Einfach so wie früher: mich aufrecht hinsetzen, die Beine aus dem Bett schwingen und auf den Boden stellen, aufstehen. Warum geht das denn nicht, ich kann es gar nicht fassen, dass es nicht geht. Spüre ich meine Beine? Ich habe das Gefühl, ein Kribbeln in den Füßen zu vernehmen.
     
     

Keine Sekunde
     
    Der Morgen empfängt uns mit Regen. Wir trennen uns gleich, ich wähle eine Route auf einer kleinen Straße, die an winzigen Bergdörfern entlang führt, Roberto und Maria nehmen den für die Wanderer empfohlenen Trampelpfad.
    Mit sehr hohem Einsatz von Mensch und Material könnte ich hier vermutlich auch hinaufklettern, aber wofür. Schon jetzt verhindert die Nässe, dass ich die Räder richtig zu greifen bekomme.
    Qualvoll geht es die Serpentinen hinauf. Auf dem Boden liegen Esskastanien, vom Sturm heruntergepeitscht, aus den aufgeplatzten stachelig grünen Mänteln quellen die braunen Früchte hervor. Ich spüre den Schmerz kaum, wenn beim Herauspulen der braunen glatten Früchte aus der pieksig grünen Umhüllung Stacheln in meine Hand dringen. Roh schmecken die Dinger trocken und durch den hohen Stärkeanteil süß. Das Gefühl im Mund gleicht dem von Deodorant auf der Zunge, pelzig und leicht aphrodisierend.
    Zwischen meinen Beinen bildet sich ein See, weil das Regencape wie eine Plane über meinen Beinen liegt, und am tiefsten Punkt sammelt sich das Wasser. Es riecht nach gegrilltem Fleisch. Wenn ich die Augen schließe und die von Holzkohle geschwängerte Luft einsauge, denke ich an Sommer, Park, blecherne Musik aus der Jukebox und Bier. Als ich sie wieder öffne, sehe ich, dass hier vor kurzem ein heftiger Waldbrand gewütet hat, die Hitze muss so stark gewesen sein, dass sie sogar den Stahl der Strommasten verbogen hat.
    An einer Kurve ist die Leitplanke weggespült oder durch das Feuer zerstört worden. Einige hundert Meter geht es hier senkrecht bergab. Ich verweile an dieser Stelle und schaue lange in das Tal hinab.
    Vermutlich würde es sehr lange dauern, bis man mich dort unten finden würde, wenn überhaupt. Trotz Regen, Schmerzen und Einsamkeit denke ich keine Sekunde daran, noch einen Meter nach vorn zu rollen, obwohl es so einfach wäre. Das hätte ich vor dreizehn Jahren in Berlin noch anders entschieden. Meistens merkt man erst, wie man sich verändert hat, wenn man tatsächlich

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