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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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Bete. Niemand kommt, also ziehe ich los, um den Schlüssel beim örtlichen Amtsdiener selbst zu holen. Seine Frau öffnet und empfängt mich mit einem wahren Redeschwall, nachdem sie mich als Deutschen identifiziert hat.
    Ihr Bruder lebe seit 30 Jahren in Münster und sei mit einer Deutschen verheiratet, berichtet sie mir begeistert, und dass ja schon viele Pilger gekommen seien, im Rollstuhl aber noch keiner. Sie ruft die Neuigkeit erst mal ihren Nachbarn zu, die mich mit einer Mischung aus Respekt und Unverständnis ansehen.
    »Vor dem Haus ist eine hohe Stufe. Meinen Sie, da könnte man etwas machen?«, wittere ich meine Chance.
    Siehe da, sie kann. Kurzerhand besorgt sie eine ausrangierte Tür, die ihr Sohn auf einer Schubkarre transportiert.
    »Morgen früh werfen Sie den Schlüssel einfach in den Briefkasten neben der Herberge«, erklärt sie mir zum Abschied, wobei sie »Briefkasten« augenzwinkernd auf Deutsch sagt.
    Vom Zimmer aus blicke ich zum Fenster hinaus und schaue zu, wie der Glockenturm langsam im Abendrot versinkt. In dem Raum befinden sich noch 30 leere Etagenbetten — gemütlich ist anders.
    Es ist Freitagabend. Soll ich in die Bar im Ort? Im Pilgergewand und mit Rollstuhl und schlechtem Spanisch? Ich werde larmoyant. Das habe ich mir doch ganz anders vorgestellt! Auf den früheren Wanderungen habe ich immer gleichaltrige Reisende getroffen, mit denen ein Austausch möglich war. Fühlt sich so etwa das Alter an, wenn die meisten Freunde verstorben sind und die Familienmitglieder nur noch seltene Pflichtbesuche abstatten? Tief in meinem Inneren weiß ich, dass aber auch diese Zeit des Alleinseins ihrem Ende naht, und ich freue mich auf die Begegnung.
    Doch ich empfinde diese Einsamkeit auch als fruchtbar, hier bin ich unverstellt ich selbst und muss keine irgendwie geartete Rolle einnehmen. Ich kann die Einheit mit mir selbst empfinden. Hier bin ich nicht hin und her gerissen zwischen verschiedensten Angeboten eines komfortablen Lebens einer Großstadt, in der die eine Unterhaltungsmöglichkeit die andere vielleicht marginal übertrifft und mir Zerstreuung bietet. Wovon eigentlich? Ich spüre hier eine Klammer, die alles miteinander verbindet.
     
     

    Die mobile Rampe
     
    Mit wie vielen Menschen bin ich in diesem Augenblick wirklich gedanklich verbunden. »Ich habe gerade an dich gedacht«, höre ich es in meiner Erinnerung nachklingen, nachdem ich meine Cousine Anja angerufen habe. Das funktioniert in beide Richtungen. Wer kennt nicht dieses Gefühl, zu wissen, wer am anderen Ende der Leitung ist, wenn das Telefon klingelt?
    Diese Einsichten haben eine beruhigende Wirkung und ich bin dankbar, dass es mir gut geht. Ich darf ganz im Rhythmus der Natur leben, gehe früh ins Bett, schlafe bei einsetzender Dunkelheit ein und beginne den Tag dafür auch schon im Morgengrauen. Dazwischen liegen zehn Stunden Nachtruhe, die durch nichts gestört werden, außer meine schmerzende rechte Hand meldet sich, was sie leider immer öfter tut.
     
    Am Plaza de España von Tábara wird der Samstagsmarkt aufgebaut. Zu dieser frühen Stunde befinden sich außer den Standbesitzern keine Menschen auf den Beinen. Wie gern würde ich ein paar der verlockenden Früchte einkaufen, verbiete es mir jedoch. Ich möchte kein zusätzliches Gewicht mit herumschleppen müssen. Schließlich schiebe ich mit jeder Radumdrehung ein Gesamtgewicht von nach wie vor konstanten 105 Kilogramm ein Stück in Richtung Santiago.
    Es folgt eine gemütliche Wanderung über 22 Kilometer zu einer Privatherberge in Santa Croya de Tera. Zum nächsten Ort wären es noch einmal elf Kilometer, mein Wanderführer kündigt für dort allerdings eine Unterkunft im ersten Stock an, direkt neben einem Altenheim. Dass mir dort jemand die Treppen hinaufhelfen kann, halte ich für eher unwahrscheinlich.
    Ich bleibe also. Die Bezeichnung »Privatunterkunft« weist zudem auf die Anwesenheit von Herbergseltern hin, die in diesem Fall sogar Deutsch sprechen sollen. Es stellt sich heraus, dass die Familie in den sechziger Jahren als Gastarbeiterfamilie in Deutschland gelebt hat. Eine typische Biographie für die Menschen hier.
    Domingo, der Hauherr, überholt sich selbst, um mir den Aufenthalt angenehm zu gestalten. Betten werden verrückt, Badezimmertüren ausgehängt. Doch es hilft nichts, der Durchgang zur Toilette ist genau einen Zentimeter zu schmal. Domingo bietet an, mich auf die Toilette zu tragen, aber das geht mir dann doch zu weit.
    800 Meter von hier

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