Dem eigenen Leben auf der Spur
mich auf dieser Passage ein wenig beeilen wollen, aber Gott sei Dank maßregelt mich die Panne und mahnt mich zur »Entdeckung der Langsamkeit«, wie ich mich selbst stichle.
Vor mir liegt ein mannshoher Lehmwall. Soll ich ihn jetzt hochrobben, nachdem ich gerade noch auf der anderen Seite heruntergerutscht bin? »Wenns regnet, schüttet es«, sagt ein altes Sprichwort.
Vielleicht sollte ich solche negativen Gedanken einfach bleiben lassen, versuche ich mich zu beruhigen. Ein 70-jähriger Herr radelt vergnügt vorbei und schaut doch leicht verwundert, mich allein in dieser Senke zu sehen. Dann bremst er, um mir zu helfen.
Als er mich den steilen Wall hinaufschiebt, beginnt er so stark zu keuchen, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme. Sein Herz wird ihn doch nicht im Stich lassen? Dank seiner Hilfe endlich oben angekommen, flicke ich in der größten Mittagshitze zum x-ten Mal den Reifen, heftig umschwärmt von lästigen Fliegen. Ich wollte schnell sein — aber auf dem Jakobsweg ist nichts mit Gewalt erzwingbar, wieder habe ich es erfahren müssen.
Wind in den Haaren
Ich habe Angst. Seit einer Stunde befinde ich mich in einem struppigen Wald, habe mehrere Weggabelungen passiert und die gesamte Zeit keine einzige Markierung gesehen. Mein Wanderführer ist wertlos. Da hilft nur, blind meiner Intuition zu vertrauen. Jede Route, die ich nicht nehme, jede neue Abzweigung steigert meine Nervosität. Ich könnte nicht einmal sagen, ob ich überhaupt in die richtige Richtung gehe. So weit das Auge reicht, bin ich von undurchsichtigem Wald und Buschwerk umgeben.
Eine Straße. In dem Moment, in dem ich auf sie einbiege, fährt ein leeres Taxi vorbei. War das eine Halluzination? Das erste Auto seit Stunden.
Während der nächsten Stunden unterbricht nur fernes Hundegebell die Stille. Endlich kommt wieder eine Wegmarkierung. Die Straße führt aus dem Wald heraus und an einem romantischen Stausee entlang. Erleichtert weiß ich wieder, wo ich bin.
Kein Mensch weit und breit. Ich halte nicht an, sondern genieße einfach im Dauerlauf. Life on the fast lane.
Wie schön wäre es, gemeinsam mit einem Freund oder einer Freundin hier zu sein. Wir könnten im Stausee schwimmen und campen, es gibt niemanden, der uns stören würde.
Es ist zu verlockend, für eine Abkühlung ins Wasser zu hüpfen. Aber kommt auch wirklich niemand und klaut meine Sachen? Ohne Rollstuhl und Klamotten wäre ich im wahrsten Sinne des Wortes nackt, ich würde nicht einmal bis in den nächsten Ort kommen.
Die Reifen hinterlassen eine zarte Spur im nassen staubbedeckten Boden. Der Zickzack-Kurs gleicht einer Skizze, die Eckpunkte sind die zahlreichen Steinbrocken, denen ich permanent ausweiche. Zum ersten Mal seit drei Wochen beginnt es zu regnen. Die Strecke verwandelt sich bergab in kurzer Zeit in eine glitschige Rutschbahn, mein Adrenalinspiegel jagt in die Höhe. So wird meine Reaktionszeit wenigstens noch einmal gewaltig verkürzt.
Zwei Jungen auf Fahrrädern kommen direkt auf mich zu. Einer von ihnen trägt ein Marylin Manson-T-Shirt und fragt mich, wohin ich will. Als ich ihm den Ortsnamen nenne, warnt er mich. Das seien immerhin noch zehn Kilometer, und das bei Regen.
Ich zeige auf sein T-Shirt und antworte, dass ich weitergehen muss: It’s a Rock ’n’ Roll attitude... Beide nicken ernst.
Rocker, Motorradfahrer, Pilger, Rollstuhlfahrer bilden immer eine Art homogene Gruppe, innerhalb derer Kommunikation mit wenigen Worten ohne Missverständnisse möglich zu sein scheint. Vermutlich haben die Jungs nicht wirklich verstanden, was ich meinte, aber wir fühlen uns gut, das ist die Hauptsache.
Rock stellt für mich viel mehr dar als nur Musik. Als ich noch Motorrad fuhr, war diese Musik für mich gleichzusetzen mit Wind in den Haaren und mit Auflehnung gegen festgefahrene Muster jedweder Art. Vielleicht etwas post-pubertär stellte sie eine Befreiung dar, aber letztendlich habe ich von ihr den Impuls erhalten, mich intensiv zu fühlen und diesen Gefühlen auch Raum zur Entfaltung zu geben.
Der erste internationale Rockstar, den ich live erlebt habe, war Alice Cooper. Das war auf seiner »World Trash Tour« 1990. Noch heute sehe ich ihn vor mir, wie er uns in der Tiefgarage der Konzerthalle aus seinem Tourbus zuwinkt.
Jahre später meinte eine Kommilitonin etwas abfällig zu mir, wenn ich mein Musikwissen gegen das Wissen über Betriebswirtschaftslehre eintauschen würde, würde ich um einiges besser dastehen im Studium. Ich
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