Dem eigenen Leben auf der Spur
Straße nehmen.
Eine solche Bergetappe zeigt mir immer wieder, wie gut ich trainiert bin. Neun lange Kilometer geht es nonstop bergauf, im gleichmäßigen Rhythmus Meter für Meter. Für müßige Gedanken bleibt kein Raum. Jeder Meter erfordert Konzentration und den ganzen Willen, nicht einfach umzudrehen und den Wagen ins Tal hinunterrauschen zu lassen. Roberto und Maria überholen mich, bergauf kann ich nicht mit ihnen mithalten. Gutes Training hin oder her, aber aus einem Arm wird kein Bein.
Ich wusste noch nicht, wie gut es mir bisher ging! Berge, schlechtes Wetter und Müdigkeit drücken auf meine Stimmung. In der regenreichsten Region Spaniens, von den Tourismusmanagern findig als »grünste Region Spaniens« beworben, hilft einzig der Wille, am Ziel ankommen zu wollen.
Auf der Passhöhe befindet sich eine Bar. Von der Decke hängt an einer Schnur ein Schinken, so wie man es hier kennt, ein ganzer Haxen inklusive Fuß. Ich bin fast schon vorbei, als ich meine beiden spanischen Wanderfreunde am Tresen entdecke. Roberto diskutiert lautstark mit einem Freund auf seinem Handy, während ich mir mit Maria eine Tafel Schokolade teile. Auf dem Jakobsweg lösen sich Kalorien einfach in Luft auf oder wandeln sich sogar in Muskelmasse um, wie schön!
Gemeinsam verlassen wir die Bar, deren einzige Gäste wir waren. Der Regen lockt niemanden vor die Tür. Nach einigen hundert Metern biegt der Pfad von der Straße ab. Eng und schmal geht es hinab. Schon bei trockenem Boden wäre es halsbrecherisch, hier eine Abfahrt zu wagen, bei Nässe ist es unmöglich.
Ich fühle mich auf den französischen Jakobsweg zurückversetzt, wo mir viele Passagen durch die unberührte Natur einfach verwehrt waren und ich immer wieder auf den Asphalt zurückgezwungen wurde. Wie weit liegen die breiten, harten Wege in der Sonne der Extremadura schon hinter mir!
Auch die Straße nach Lubián führt lange Zeit steil bergab. So steil, dass ich es nicht schnell laufen lassen kann ohne Gefahr zu laufen, die Kontrolle über das Gefährt zu verlieren. Regen peitscht mir ins Gesicht. Der nächste Rastort liegt im Tal zwischen zwei Bergzügen, wer an einem Tag nicht zweimal klettern möchte, übernachtet hier. Die Herberge befindet sich mitten in einem Baugebiet, welches mir wie ein einziger großer Sandkasten vorkommt.
Viel von dem nassen, klebrigen Sand bleibt an meinen Reifen hängen, und prompt schleppe ich auch jede Menge Sand in den Hausflur, wo er langsam auf den Boden rieselt.
Die Betten, stellt sich nach einer Weile heraus, befinden sich im ersten Stock. Eine steile Wendeltreppe führt nach oben. Schulterzuckend gibt mir der ältere Herbergsbesitzer das Geld für die Übernachtung zurück und weist mir den Weg zu einem Landhaus, das über Zimmer zu ebener Erde verfügen soll. Praktischerweise liegt es in derselben Straße.
Ich bin hin und her gerissen. Soll ich doch, wie eigentlich geplant, noch in den nächsten Ort gehen, oder einfach in dem pilgerfreien Landhaus übernachten?
Ich spüre, dass ich unbedingt in der Herberge bleiben will. Mein Gefühl rät mir zwar eindeutig dazu, in das Landhaus zu gehen, aber ich entscheide mich dagegen. Ich will keinen Luxus, es ist der Pilgergedanke, der mich lenkt.
Roberto, der inzwischen auch angekommen ist, erkennt meine Unentschlossenheit und sagt endlich »al vino vino al pan pan«, was so viel heißt wie »los, machen wir’s«, und zerrt mich die vielen Stufen der Herberge hoch.
Der Blick aus dem Fenster über das regenverhangene Tal belohnt mich für die Entscheidung. Roberto und Maria gehen einkaufen, sie bieten an, in der Herberge etwas zu kochen. Die Küche befindet sich im Erdgeschoss.
Ich merke ihnen die Anstrengung nicht an und schwelge im Rausch unseres neuen Ferienlagers. Wir essen auf der ausgehängten Badezimmertür, die wie eine Tafel auf zwei Stühlen aufliegt. Sie laufen treppauf, treppab, um die Dinge aus der Küche zu holen. Ich bin glücklich darüber, hier zu sein, und wundere mich nur ein bisschen, dass Roberto immer einsilbiger wird.
Plötzlich weist mich Roberto mit brutaler Offenheit zurecht.
»Nein, dies ist keine Romantik«, fährt er mich an. »Wir reißen uns den Arsch auf, um dir das zu ermöglichen, denn du könntest ja auch im Landhaus übernachten. Wir gehen dabei weit über das normale Maß hinaus. Auch wir sind müde, auch uns verlangt der Weg alles ab. Schwierige Themen kommen auch bei uns hoch, die verarbeitet werden müssen. Verstehst du?«
Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher