Dem eigenen Leben auf der Spur
nach einer Stunde eine Abzweigung von der Straße. Frühnebelverhangen windet sich das Sträßlein in der morgendlichen Stille. Welcher Wochentag ist heute eigentlich? Fühlt sich an wie ein Sonntagmorgen.
Plötzlich rast ein riesiger Hund wie aus dem Nichts auf mich zu, stoppt jedoch in einiger Entfernung mitten auf dem Weg, als ob er sagen wollte: »Hier ist nur Platz für einen von uns beiden. Noch kannst du umdrehen.« Ich nehme mein aufgeklapptes Taschenmesser in die rechte Hand, Sicherheit fühlt sich anders an. Langsam nähere ich mich dem Tier und befehle ihm, den Weg freizugeben. Mit jedem Schritt, den ich langsam näher komme, weicht er einen zurück und wird nach einer Ewigkeit von seiner Besitzerin zurückgepfiffen, die gar nicht begriffen hat, was passiert war. Sie warnt mich vor dem kommenden Stück des Wegs, »impossible« nennt sie es, aber ich glaube ihr nicht. Nicht aus Trotz, intuitiv weiß ich es besser.
Stundenlang wandere ich durch einsame Wälder, passiere kleine Weiler, um irgendwann auf einer ehemaligen Nationalstraße zu landen. An einem steilen Stück spucke ich schon in die Hände, um fest zupacken zu können, als mir ein Bauer hinterher gerannt kommt. Er schiebt mich unaufgefordert hinauf. Hat er unseren längeren Blickkontakt missverstanden? Er duldet keine Widerworte, das hier ist sein Land, hier herrscht sein Gesetz. Er wünscht mir für den weiteren Pilgerweg alles Gute und verschwindet schneller, als er gekommen ist.
Es ist zum Kotzen. Nie, wirklich nie, kann ich auf dem Weg verlässlich planen! Laut Höhenprofil liegt Ourense 600 Meter tiefer, bereits mittags wähne ich mich auf der Abfahrt dorthin. So leicht habe ich noch nie eine Tagesetappe bewältigt, freue ich mich schon, oder sollte Ourense erst die nächste, zwölf Kilometer entfernte Stadt sein? Immerhin hat Ourense 110 000 Einwohner, und das vor mir liegende Städtchen sieht deutlich kleiner aus. Wieder ist es brütend heiß, nachdem es am Morgen noch geregnet hat, und wieder drückt eine anstrengende Route der zweiten Tageshälfte ihren Stempel auf.
Tatsächlich, es geht aus dem Talkessel wieder hinauf. Es ist Samstag. Auf dem Wochenmarkt der kleinen Stadt herrscht lebhaftes Treiben.
Ich kann bald nicht mehr, es zählt nur noch das Ankommen, irgendwie. Aber alles in mir scheint dem entgegenzustehen: die Müdigkeit, der ständige Hunger, die niemals richtig wach werdende rechte Hand und dann noch das Aufwühlen von alten Verletzungen. Mit Tränen in den Augen denke ich an meinen Vater und seine Harmoniesucht. Einmal, es war bei einem Urlaub, verschwand ich einfach für zwei Tage, spurlos. Als ich zurückkam, war seine einzige Reaktion: Ah, da bist ja wieder.
Ich war fünfzehn, und mein Vater, ein Bruder von mir und ich flogen für zwei Wochen nach Ägypten in Urlaub. Das Baden und Herumliegen war mir schnell zu langweilig, also erkundete ich mit Sammeltaxis und Bussen die nähere Umgebung.
Einmal traf ich auf einen Englisch sprechenden Arzt und unterhielt mich eine Weile mit ihm. Schließlich lud er mich zu sich nach Hause ein. Sicherlich etwas blauäugig ging ich einfach mit ihm mit, und erlebte einen unvergesslichen Abend. Bei dem Abendessen, bei dem, wie es mir schien, von seiner Familie alles, was die Speisekammer zu bieten hatte, aufgetischt wurde, und bei einem gemeinsamen Gang durch die Stadt am nächsten Morgen fühlte ich mich aufgehoben und akzeptiert wie sonst nie. Warum war das in meiner Familie eigentlich nicht möglich?
Am Abend kehrte ich wie selbstverständlich zurück. Ich hatte die schönsten beiden Tage des Urlaubs erlebt, jetzt würde ich eine Moralpredigt von meinem Vater zu hören bekommen, aber das war es mir wert. Sie kam nicht, sie kam nie, stillschweigend wurde zur Tagesordnung übergegangen. Noch heute verstehe ich nicht, wie er so gefühllos mit mir umgehen konnte.
Erst an seinem Sterbebett erzählte er mir, dass er damals ein Brennen im Herzen gespürt hatte und glaubte, er bekomme einen Herzinfarkt. Die Mediziner haben später bei ihren ausführlichen Krebsuntersuchungen eine kleine Attacke diagnostiziert, die unerkannt Jahre zurücklag.
Point of no return
Endlich sehe ich mein Ziel im Tal liegen. Ich ziehe den Pullover aus, das Regencape ist schon seit den Mittagsstunden im Rucksack verschwunden. Der Weg ist sehr verwinkelt, wie im Film »Die fabelhafte Welt der Amelie« befindet sich an jeder Ecke ein verstecktes Wegzeichen. Ich gleite an einem Bach entlang, jeder
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