Dem eigenen Leben auf der Spur
Pfeil zeigt in eine andere Richtung. Über eine Brücke gelange ich auf die andere Seite. Dort ist wieder ein Pfeil, der um einen Häuserblock herumführt. Wann springt wohl der Erste der Einwohner hier hinter einer Ecke hervor und lacht mich aus?
Ich bin am Ende des Bächleins in der Stadt angekommen, bei einem heruntergekommenen Gebäude hören die Pfeile einfach auf.
Als ich nach langem Suchen weitere Pfeile finde, ahne ich, dass ich der falschen Markierung gefolgt bin. Die Pfeile zeigen stadtauswärts, und in dieser Richtung geht es einen langen Anstieg hinauf.
Ich werde wütend auf mich und schreie mich an. Auf die gleiche Weise habe ich auch schon Autofahrer beschimpft, die zu dicht an mir vorbeifuhren, oder Hunde, die mich frech laut ankläfften. Die Wut darüber, kurz vor dem Ziel falsch abgebogen zu sein, lässt mich kochen. Und nirgendwo ein Ventil, um den Ärger loszuwerden!
Das ehemalige Kloster San Francisco ist heute die Pilgerherberge von Ourense. Wo im 14. Jahrhundert die Franziskanermönche auf Strohschütten geschlafen haben, nur einen Becher Wasser neben sich, bettet der Wanderer heute luxuriös sein müdes Haupt auf Pierre Cardin-Matratzen. Und ums Eck finde ich eine Filiale der Deutschen Bank, wie praktisch.
In den zurückliegenden vier Wochen habe ich gerade einmal 500 Euro ausgegeben. An das Gefühl, auf Dinge verzichtet zu haben, kann ich mich allerdings nicht erinnern. Auch hier in Galicien wird sich das nicht ändern.
Deutsche und spanische Radpilger versuchen, den Herbergsvater zum Abendessen einzuladen, um die Sperrstunde etwas flexibler handhaben zu können. Doch der bleibt stur und mahnt uns zur Eile. Daran halten wir uns auch, bis zum Digestif. Dann ist’s vorbei mit der Selbstdisziplin.
Geplant sind ein oder zwei schnelle Runden, aber keiner hat mit dem Wirt gerechnet. Als er selbst gebrannten Schnaps in einer 1,5-Liter-Flasche auf den Tisch stellt, werden wir mit jedem Mal Nachschenken lockerer in puncto Schließzeiten. Man wird uns schon nicht vor der Tür stehen lassen.
»Sag mal, darf ich dir eine intime Frage stellen?«, fragt mich der Spanier an unserem Tisch in einer Mischung aus Deutsch, Spanisch und Englisch, als wir die Flasche fast geleert haben. Ich weiß sofort, was kommt. Habe ich einmal den Rollstuhl vergessen und sitze einfach gemütlich mit anderen zusammen, prompt werde ich auf den Rollstuhl angesprochen.
»Geht das eigentlich mit dem Sex?«
Frauen fragen nie so direkt. Ich weiß nicht, wohin dieses Gespräch führen soll, und so antworte ich ausweichend, dass im Zeitalter von Víagra sogar Hugh Hefner mit seinen Bunnys gut unterwegs sei. Solche distanzlosen Fragen sind mir höchst suspekt. Nur weil ich im Rollstuhl sitze, bin ich doch kein seltenes Tier aus dem Zoo, für dessen Vorlieben und Gewohnheiten man sich interessieren müsste.
Wir sind zwar nicht die Letzten, die an der Pforte Einlass begehren, aber freundlich empfangen werden wir trotzdem nicht, obwohl wir dem Hospitalero Bier mitgebracht haben. Gegen Mitternacht hallt das nächste Klopfen durch das Gewölbe und ich denke an Shakespeares Macbeth, der nach seinem Mord an dem schottischen König ausruft: »Wake Duncan with thy knocking, I wish thou couldst.« Im Halbschlaf frage ich mich, ob der Herbergsvater ihnen wohl geöffnet hat.
Um acht Uhr morgens stehen wir verkatert vor der Herbergstür. Wir sind sechs Personen, das Mitternachtspärchen inklusive. Der Betreuer verhält sich uns gegenüber vollkommen kompromisslos, Pilger sollen marschieren und nicht bis in die Puppen schlafen, und schon gar nicht, wird er sich gedacht haben, wenn sie die Nacht davor zu tief ins Glas geschaut haben. Um eine Minute nach acht fällt das große Tor hinter uns ins Schloss.
Die Radfahrer wollen heute Abend schon in Santiago sein, ich übermorgen. Sie rasen den Berg hinunter und sind im Handumdrehen verschwunden, während das Pärchen sich ganz pilger-untypisch zu seinem Auto begibt.
Um diese Uhrzeit sind nur wenige Menschen auf den Beinen. Einige Marktfrauen waschen in heißem Wasser frisch gefangenen Tintenfisch, den es hier gekocht und gegrillt an jeder Ecke zu kaufen gibt. Auch für Wanderer ist Pulpo eine beliebte Eiweißquelle.
Es gibt zwei Routen aus dem Talkessel, eine östliche und eine westliche. Mein Wanderführer empfiehlt, beide zu kombinieren, da die westliche Alternative am Anfang mehrere Kilometer neben der viel befahrenen Nationalstraße N-120 entlang führt, und der östliche
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