Dem eigenen Leben auf der Spur
über einen kritischen Punkt hinaus ist.
Die letzte Biegung liegt hinter mir, ich habe den Pass von A Canda erreicht, die Grenze zwischen Kastilien und León und Galicien. Mein Wanderführer reflektiert etwas süffisant das Schicksal von Radpilgern in dieser Provinz: »Sollten die Radfahrer bisher die Fußpilger wegen ihrer Strapazen bemitleidet haben, so kann sich dieses Mitleid in Galicien zeitweise in Neid verwandeln. Besonders wenn es geregnet hat, können die Strecken für Radpilger mühsam werden. Auch werden Sie oft steinige und steile Wege vorfinden, die allerdings auch wieder von guten Wegstrecken abgelöst werden. Aber keine Angst: Wenn Sie es bis hierhin geschafft haben, können Sie auch den Rest bewältigen. Allerdings werden Sie an einigen Tagen wohl nicht so schnell vorankommen wie bisher.«
Werde ich in Galicien je wieder trocken?
Bergauf bewege ich mich im Schneckentempo, und jetzt deutlich zu schnell. Regenwasser spritzt in alle Richtungen, während die Reifen durch den Wasserteppich pflügen. Der Regen legt einen Film auf die glitschigen Greifreifen, anzuhalten ist hier völlig unmöglich. Bis das Wasser verrieben ist und ich langsamer werde, habe ich schon viele weitere Meter zurückgelegt.
Ich schreie vor Schmerz. Die Hände pressen sich an den Stahl, und jede Sekunde sehe ich mich die Kontrolle verlieren und gegen die Leitplanken rasen. Mit großen Bögen versuche ich die Geschwindigkeit zu drosseln und Herr über meine Lage zu bleiben. Die am Rollstuhl befindliche Bremse ist für diese Zwecke wertlos. Sie funktioniert wie eine Handbremse beim Auto, betätige ich sie etwas härter, rastet sie sofort ein und blockiert das Rad.
Ich habe einen Krampf in der rechten Hand und kann nicht mehr zupacken. Ist der Nerv im Carpal-Tunnel abgestorben, hat er nun endgültig aufgegeben? Sind das die motorischen Ausfälle, vor denen mich der Frankfurter Sportarzt warnte? Ich habe panische Angst. Ohne eine funktionierende Hand wäre ich wirklich behindert.
In der ersten Kneipe an einem Trucker-Stop fliehe ich aus dem Regen ins Trockene. Ich versuche zu schreiben, aber der Stift fällt mir aus der Hand. Erste Wiederbelebungsversuche scheitern, und ich stelle mir voller Entsetzen vor, die Reise hier beenden zu müssen. Daumen, Zeige- und Mittelfinger gehorchen nicht, sie bewegen sich nicht aufeinander zu.
Auf gar keinen Fall möchte ich wieder hinaus in den kalten Regen, vielleicht hilft mir eine Flasche Wein, keinen Schmerz mehr zu spüren? Vorher wasche ich mir noch die Hände. Als das heiße Wasser die tauben Hände weckt, kehrt die Motorik langsam zurück. Erleichtert seufze ich auf. Angst und Freude liegen im Moment eng beieinander.
Pitschnass treffe ich Stunden später in A Gudiña Roberto und Maria. Auch sie hat der Regen voll erwischt, oft konnten sie den anderen kaum neben sich erkennen. Als sie mich sehen, springen sie freudestrahlend aus einer Bar und begleiten mich zur Herberge. Ich bin glücklich, sie wiederzusehen.
Diesmal ist alles barrierefrei — ich atme auf. Eine ähnliche Konstellation wie gestern hätte ich nicht akzeptiert, lieber wäre ich in eine Pension gegangen.
In der Herberge verteile ich meine Ausrüstung auf sämtliche Heizungen. Nichts ist trocken geblieben, außer den wenigen Dingen, die in einem wasserdichten Beutel im Rucksack verstaut waren. Das Handy gehörte nicht dazu und verweigert wie zu erwarten seinen Dienst. Ich trockne jedes Teil, sogar die Sim-Karte ist feucht. Ein Jump-Start an der Steckdose schafft das Unmögliche. Ich habe sogar eine SMS.
Wir machen uns mit der zweiten Garnitur fein und gehen zusammen in ein Restaurant essen, während die nassen Klamotten vor sich hindampfen und hoffentlich trocken werden. Der Speisesaal ist leer, ausnahmsweise läuft einmal kein Fernseher im Hintergrund, und wir bekommen das gleiche Menü, das ich heute Mittag schon hatte. Ob beide Restaurantbesitzer beim gleichen Großhändler eingekauft haben?
Wie wohltuend, den Abend gemeinsam zu verbringen. Morgen wird das schon wieder anders sein. Ich entscheide mich für eine 30 Kilometer längere Alternativroute nach Ourense, dem letzten großen Ort vor Santiago de Compostela. Roberto und Maria haben es etwas eiliger, bleiben auf dem normalen Weg und werden mir einen Tag voraus sein.
Roberto und ich verabschieden uns herzlich mit spanischem Schnaps aus Wassergläsern, gelbem Oroucho. Während der weiße Oroucho wie ein klarer Schnaps schmeckt, ist der gelbe süßer
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