Dem eigenen Leben auf der Spur
und hat natürlich auch weniger Alkohol. Maria trinkt überhaupt keinen Schnaps und wohnt deshalb der Verbrüderungsszene nicht bei.
Roberto erzählt von dem tiefen Schmerz, den jeder »Gallego«, Galicier, verspürt. »Caraelo« nennt er ihn. Ob es sich um eine ähnliche Schwermut handelt, wie ich sie von Schotten und Iren kenne? Vielleicht hängt sie wirklich mit dem Wetter zusammen, und Alkohol verstärkt die Melancholie dann nochmal.
Immer wieder entlang des Wegs — auch eine Art Herberge...
Wir werden uns erst in Finisterre wiedersehen, wenn ich so weit komme. Die Erfahrung heute hat mir einen Dämpfer versetzt. Eine Menge habe ich bis hierhin geschafft, und doch heißt das nichts. Auf den nächsten 300 Kilometern kann noch viel passieren.
Visualisierungen
Meine Route verläuft über unbefahrene Nebenstraßen, die vom Regen kaum aufgeweicht sind. Wer weiß, vielleicht treffe ich nach fünf Tagen auch wieder auf neue Pilger. Den Gedanken habe ich vor lauter Hoffen nicht zu Ende gedacht, wie mir bald darauf auffällt: Wo sollen sie denn herkommen, die neuen Pilger, wenn nicht von der Herberge, in der ich war? Wir waren aber nicht mehr als drei einsame Gestalten gewesen.
Die von mir gewählte Strecke ist in meinem Wanderführer nicht beschrieben, und erst eine zehn Kilometer lange Abfahrt, die ich wie fliegend hinter mich bringe, lässt mich ahnen, dass ich auf einer wahrscheinlich deutlich anstrengenderen Passage unterwegs bin.
In der denkmalgeschützten Herberge in Verin werde ich krank. Seit Tagen bin ich der Erste, der hier übernachtet, von wegen andere Pilger... Mit Fieber liege ich schon früh im Bett. 27 Tage Vollgas fordern ihren Tribut.
Am nächsten Morgen schleppe ich mich in stockfinsterer Nacht weiter, verlaufen kann man sich entlang der Straße ja nicht groß. Warum hätte ich noch einen Tag bleiben sollen. Ich hatte in dem Kellergewölbe nicht mal den Lichtschalter gefunden und musste bei tagheller Beleuchtung schlafen.
Gewissermaßen als Ersatz für die Sehenswürdigkeiten, die Verin nicht zu bieten hat, habe ich gestern seit Wochen das erste Mal wieder E-Mails gelesen.
Meine Entscheidung, einen Umweg zu gehen, hat die Anzahl meiner Antriebe um 20 000 erhöht. Mit jedem weiteren Schritt, jeder weiteren Umdrehung kommt das große Ziel näher. Brauchte ich die anstrengende Route, weil ich noch nicht bereit bin, in absehbarer Zeit anzukommen?
Ich muss in Bewegung bleiben, um nicht auszukühlen, es ist fast wie bei meinen Fahrten in Deutschland. Außerdem schauen mich hier die Menschen wie ein Ufo an. Zugegeben, mein Regencape ist nicht gerade Hautecouture, aber so schrecklich kann es doch auch nicht aussehen?
Ein absurdes Erlebnis fällt mir ein. Einmal trug ich das Cape zu Hause bei strömendem Regen zum Einkaufen. An der Kasse fragte mich die Kassiererin: »Brauchst du den Kassenbon?« Ich wunderte mich über das jugendliche Duzen, und lehnte wohlerzogen brav dankend ab. »Aber vielleicht die Mutti?«, ließ sie nicht locker.
Das Dunkelblau des Umhangs verjüngt mich offensichtlich rasant, aber das ist nicht der Grund dafür, warum ich es überhaupt nicht mag. Trotz dieses Gewands werde ich immer nass, jedes Mal wieder, da der Regen irgendwo hinfließen muss. Zum Beispiel auf die Sitzfläche, weswegen ich nach längeren Regenschauern regelmäßig im Nassen sitze. Let the sun shine.
Ein Zettel an der verschlossenen Herbergstür weist mich an, den Schlüssel in der lokalen Bar zu holen. Ich irre etwas verloren durch die kleine Ortschaft, und frage an einem Vorschulkindergarten nach dem Weg. Die lachende Kindergärtnerin beschreibt ihn mir, überlegt es sich dann aber anders und stellt mir ein 8-jähriges Mädchen an die Seite, die mit mir gehen soll.
Irgendwie ist dem Mädchen die ganze Situation peinlich. Vor allem, weil wir schon nach wenigen Schritten vor der Bar stehen. Von lauter alten, trinkenden Männern umgeben bittet sie für mich um den Schlüssel. Sie ist froh, wieder verschwinden zu können, nachdem sie mir den Rückweg sicherheitshalber gleich dreimal erklärt hat. Jeden Satz beginnt sie dabei mit »Mira«, »sieh mal«.
Aber ich bin immer noch nicht am Ziel meiner Wünsche. Erst mal soll ich mit den Jungs Bier trinken und mich ausfragen lassen, dann meinen Namen und meine Personalausweisnummer in das Pilgerbuch schreiben, und als Nächstes bekomme ich einen Schlüsselbund mit drei verschiedenen Schlüsseln. Am nächsten Morgen soll ich den
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