Dem eigenen Leben auf der Spur
schweren Bund einfach unter dem Rollo der Ladentür hindurchschieben. Wie das gehen sollte, ist mir schleierhaft, denn die Bar ist unverschlossen.
Ein Restaurant gibt es hier allerdings nicht, und der Bäcker macht erst morgen früh wieder auf. Nicht so früh, fügt der Barbesitzer schnell korrigierend hinzu. Also bleibt mir nur der Gang in den winzigen Supermarkt. Wie immer bewahrheitet sich die Lektion, nicht hungrig einkaufen gehen zu sollen, ich kann mich nicht entscheiden und nehme viel zu viel mit.
Wie in einem Hochsicherheitstrakt muss ich an der Herberge zwei Türen hintereinander aufschließen. Wofür aber ist der dritte Schlüssel?
Am Abend durchbreche ich die Stille der erst 2001 errichteten Herberge und rufe Roberto an. Er berichtet, dass sie einen Gang zulegen werden und schon in drei Tagen in Santiago sein wollen. Auch sie sind gestern Abend allein in ihrem Refugio gewesen. »Allein in der Herberge, so so...!« Er geht auf meine Anspielung nicht ein. Nicht heute.
In den langen einsamen Stunden visualisiere ich meinen neuen Job und meine nächste Freundin. Ich stelle mir vor, was ich will und was ich nicht will. Was hat beim letzten Mal funktioniert, was nicht? Ein paar Dinge möchte ich weder im neuen Job noch in meiner nächsten Beziehung erleben.
Im Gebet erfrage ich, was ich an mir ändern muss, um ein volleres Glück auch in diesen Bereichen zu erfahren. Freilich hätte ich es besser wissen müssen, denn gerade die Dinge, die man nicht will, bekommt man. Erst wenn ich erkenne, warum ich Dinge nicht mehr in meinem Leben will und die tiefere Ursache abstelle, kann wirkliche Veränderung erfahrbar werden. Um mir die Zeit für diese schwierigen Gedanken zu nehmen und dabei nicht die Möglichkeit zu haben, davonzulaufen, bin ich auf dieser Reise.
»Focus on what you want and not what you don’t want!«
Ich will wissen, warum ich auf dem Jakobsweg so vollends glücklich bin, in vielen anderen Situationen jedoch nicht. Was unterscheidet diese Welt hier von anderen? Befinde ich mich in einer Traumwelt? Auch die Ruhe des Caminos ist eine Illusion, ich weiß es, dennoch ist es viel leichter, auf ihm in Kontakt mit sich selbst zu kommen. Mit viel Konzentration geht das natürlich auch auf dem Seitenstreifen einer Straße mit tosendem Verkehr...
Jeder Pilger lernt in sich hinein zu lauschen und von der Weisheit der dort vorhandenen niemals versiegenden Quelle zu schöpfen, dort Entscheidungshilfen zu finden und zu erkennen, dass einen kein Mensch so gut beraten kann wie die eigene Intuition. Damit kann jeder Pilger bedingungslos ja zu sich und seinem eigenen Rhythmus sagen, egal wie schnell oder langsam sich dieses Tempo von außen betrachtet ausnimmt. Er beachtet sein Material, aus dem er ist, erkennt die Besonderheiten und kann sie nutzen.
Aus Ton wird kein Stahl, aber eine tragende Säule kann aus beidem entstehen. Manchmal braucht es Zeit, bis man sich selbst sein Geheimnis entlockt hat, aber dafür wird der Weg zum Ziel: Sich anders zu bewegen, anders zu sehen und anders zu empfinden als im Alltag. Auf dem Pilgerpfad ist man brennenden Fragen und Antworten 24 Stunden ausgesetzt. Kein Fernseher, Internet oder Telefon, die die herbeigesehnte Ablenkung ermöglichen. Weglaufen geht nicht.
Dennoch: Nichts was hier erfahrbar ist, könnte an anderer Stelle zu anderer Zeit nicht genauso erfahren werden. Bei der Pilgerwanderung geht es darum, ein Stadium der Offenheit zu erreichen, um grundlegende Entscheidungen zu treffen und durchzuführen, die dann positive Veränderungen im Leben bewirken. Spiritualität ist für jeden, der sich darauf einlässt, erfahrbar, hier wie anderswo.
Ich fühle mich mit allen Dingen um mich herum verbunden. Die Landschaft und das Äußere verändern sich mit wechselnder Stimmung. Zum ersten Mal fühle ich die Freiheit eines Landstreichers. Alles Meine trage ich bei mir, ich kann gehen, wohin ich will, und anhalten, wann ich möchte. Wenn ich hungrig bin, greife ich in meinen Rucksack und nehme mir etwas zu essen, oder ich finde Obst und Gemüse auf den Feldern, an denen ich vorbeikomme.
Richtig hell wird es in Galicien für mich nie, heute Morgen ist es besonders dunkel. Ab und zu blenden mich Scheinwerfer entgegenkommender Autos, eine Frau, wahrscheinlich auf dem Weg zu ihrem Espresso in einer Bar, sieht mir lange nach. Ich spüre den Blick in meinem Nacken, als ich mich umdrehe, sehe ich sie immer noch wie angewurzelt dastehen. Let me entertain you.
Dankbar nehme ich
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