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Dem Himmel entgegen

Dem Himmel entgegen

Titel: Dem Himmel entgegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Monroe
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erwiderte Harris. Er öffnete die zweite Box.
    Auch dieses Tier warnte Harris, auf Distanz zu bleiben, und machte mit dem Schnabel klackende Geräusche. Doch Harris umfasste das Tier sicher mit seinen Händen und hob es aus der Box. Eine Weile standen Harris und Ella nebeneinander – beide mit einem Uhu auf dem Arm. Für Ella war es die erste Auswilderung, und ihr Herz pochte vor Aufregung. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, aber sie meinte zu wissen, dass die Vögel in diesem Augenblick, in dem die Freiheit so nah war, genauso empfanden. Sie waren angespannt und drehten die Köpfe, um ihre neue Umgebung zu erkunden. In den Bäumen um sie herum flatterten aufgeregt die Vögel umher, um einen Blick auf die neuen, ungeladenen Gäste zu erhaschen.
    Harris nickte und streckte den Arm aus. “Viel Glück”, sagte er und ließ die Eule in seiner Hand frei. Der Virginiauhu breitete seine Schwingen aus und stieg – ein wenig überrascht von der plötzlichen Freiheit – etwas unsicher in die Lüfte auf. Doch schon bald hatte sich das Tier gefangen und flog auf den Fluss zu. Die Flügelschläge waren wie ein Flüstern im Wind. Bald war der Uhu am Himmel nicht mehr zu sehen.
    Es war der ältere von beiden gewesen, und Harris und Ella waren ein bisschen enttäuscht, da sie gehofft hatten, der alte Uhu würde sich in der ersten Zeit um seinen jüngeren Artgenossen kümmern. Ella blickte traurig auf den kleinen Uhu auf ihrem Arm hinunter.
    “Jetzt bist du auf dich allein gestellt. Viel Glück”, flüsterte Ella ihrem Uhu zu und ließ ihn, wie sie es bei Harris beobachtet hatte, frei. Sie spürte den Luftzug der Flügelschläge auf ihrem Gesicht, als das Tier losflog. Zwar war ihr Uhu jünger gewesen und bewegte sich nicht so anmutig wie der ältere, aber auch er war begierig, den Menschen, die ihn so lange in Gefangenschaft gehalten hatten, zu entkommen. Der Vogel flog zur nächsten Eiche und ließ sich auf einem Ast nieder. Dort saß er und schaute sich aufmerksam um, aufgeregt wie ein Teenager, der zum ersten Mal abends ausgehen darf.
    “Wird es ihm auch gut gehen?” Ella bemerkte plötzlich mütterliche Gefühle für den jungen Uhu, den sie begleitet und gepflegt hatte, seit das Tier als Nestling in die Klinik eingeliefert worden war. Sie kannte den Vogel, seit er zarte Daunen hatte, hatte gesehen, wie die ersten Federn durch starke Flugfedern ersetzt worden waren und wie das Tier sich entwickelt hatte. Sie hatte den Nestling gefüttert und ihm, als er älter wurde, schließlich in einer großen Voliere dabei zugesehen, wie er die ersten lebendigen Mäuse gefangen hatte. Er hatte sich von einem hilflosen Waisen zu einem lebensfähigen, kräftigen und kämpferischen Vogel entwickelt und war nun bereit, seinen Weg in Freiheit zu gehen.
    In den Ästen begannen zwei Eichelhäher warnend zu schnattern. Sie konnte hören, wie ihre Artgenossen, die tiefer in den Wäldern lebten, antworteten. Der Uhu saß immer noch auf seinem Platz und rührte sich nicht. Das machte die Eichelhäher nur noch wütender, und sie begannen, Angriffe auf den Uhu zu fliegen. Das Tier duckte sich bei jeder Attacke, blieb aber beharrlich auf dem Ast sitzen.
    “Harris! Er sieht so verwirrt und verängstigt aus”, sagte Ella.
    “Das war zu erwarten. Die Eichelhäher sehen den Uhu als Angreifer. Schließlich frisst unser Freund Ratten, Mäuse, Kaninchen und auch Vögel. Er ist nicht willkommen, und sie versuchen, ihm Angst zu machen, damit er ihr Revier verlässt. Aber machen Sie sich keine Sorgen – früher oder später wird er verstehen, was um ihn herum vor sich geht und sich verteidigen. Wahrscheinlich wird er den Tag verstreichen lassen und auf die Nacht warten, um sich Nahrung zu besorgen. Er ist nachtaktiv und ruht über Tag, das sollten wir nicht vergessen.”
    “Wenn Sie meinen”, erwiderte Ella noch nicht überzeugt und betrachtete den kleinen Uhu sorgenvoll.
    “Sicher bin ich mir auch nicht”, gab Harris zu. “Aber Sie dürfen nicht den Fehler machen, ihm menschliche Gefühle zuzutrauen. Die Natur ist uns gegenüber gleichgültig, Ella. Zu glauben, dass ein Tier oder die Natur allgemein etwas für uns empfindet, wie wir das teilweise tun, ist romantisch und naiv.”
    In Ellas Ohren klang es wie eine Zurechtweisung, und sie fühlte sich ein bisschen ernüchtert. “Ich kann nichts dagegen tun – ich hege nun einmal Gefühle für die hilflosen kleinen Waisen, die ich mit aufziehe, auch wenn das nicht professionell ist”, brauste

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