Dem Himmel entgegen
Zärtlich streichelte er die Tränen von ihren Wangen, strich ihr feuchtes Haar zurück. Sie schluchzte unaufhörlich. Behutsam streichelte er ihren Kopf und murmelte beruhigende Worte, bis ihre Tränen langsam versiegten. Sie konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren – warm und nah –, im gleichen Rhythmus wie dem ihren.
Sie öffnete die Augen, und ihre Blicke trafen sich. Ella hatte das Gefühl, in seinen tiefen blauen Augen zu versinken. Harris beugte sich zu ihr, kam ihr immer näher. Als er schließlich seine Lippen sanft auf ihre Lippen presste, schloss sie die Augen und atmete tief seinen Duft ein. Dieses Mal wusste sie, dass sie verloren war.
Der Kuss, der so zart begonnen hatte, wurde begieriger, sehnsüchtiger, und es fühlte sich an, als hätte der Blitz eingeschlagen – kraftvoll und unerwartet. Die Funken sprühten, und das Feuer der Leidenschaft loderte, bis es außer Kontrolle zu geraten drohte. Es erhitzte ihre Haut, ließ sie nach Atem ringen.
Draußen tobte der Sturm. Der Wind zerrte an ihrem Zelt, Donner grollte über ihren Köpfen, Blitze zuckten über den Himmel, an dem Wolkenfetzen jagten.
Doch Ella hatte keine Angst mehr. Sie hatte die Augen geschlossen und gab sich Harris Berührungen hin. In ihrer Fantasie war sie auf dem Fluss, glitt dahin, die Sonne wärmte ihre Haut. Harris und sie waren eins, und Ella spürte, wie sie der Strömung des Flusses folgte, durch die Stromschnellen und hin zu der Wärme und Geborgenheit, die sie immer gesucht und – endlich – gefunden hatte.
“Es tut mir Leid”, sagte Harris zu ihr, nachdem sich ihre Körper von der Hitze der Lust und Leidenschaft abgekühlt hatten. “Das hätte nicht passieren dürfen.”
Er löste sich aus ihren Armen und setzte sich in dem winzigen Zelt hin. Der Sturm hatte noch nicht aufgehört, aber wenigstens war der Regen versiegt. Die Feuchtigkeit, die in der Luft lag, war so dick und drückend wie eine Decke. Vor dem Zelt begannen Grillen und Frösche ihren einsamen Gesang.
Kälte kroch Ellas Rücken hinauf, nachdem er nicht mehr neben ihr lag. Sie zitterte. Verwirrt und verunsichert setzte sie sich auf und zog die dünne Decke um ihre nackten Schultern. Plötzlich fühlte sie sich ungeschützt und ausgeliefert.
“Was hätte nicht passieren dürfen?”
“Ich habe dich nicht deshalb hierhin gebracht.”
“Das weiß ich doch”, erwiderte sie und lachte nervös. “Sei nicht dumm.”
Er saß reglos neben ihr und starrte auf den Boden.
Sie benetzte sich die Lippen, die er vor einigen Augenblicken noch so begierig geküsst hatte, und sprach ihre tiefste Angst aus: “Bereust du es?”
“Ich? Nein!”
Ella spürte die Erleichterung und hätte weinen können.
“Aber ich hatte kein Recht dazu.”
“Weil ich die Nanny deiner Tochter bin?” fragte Ella amüsiert. Wie konnte er sich nur über so eine Kleinigkeit solche Gedanken machen?
“Nein.” Er blickte ihr tief und lange in die Augen. “Weil ich verheiratet bin.”
Ella zog die Luft ein. Dieser Satz traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. “Du bist verheiratet?”
“Ich dachte, du wüsstest das. Wir haben doch über Fannie gesprochen.”
Da war er wieder. Ihr Name. Der Name seiner Ehefrau. Er hing noch in der Luft.
“Nein! Das haben wir nicht. Nicht wirklich. Ich meine, ich weiß, wer sie ist, sicher. Aber ich dachte, du wärst geschieden.”
Er schüttelte schweigend den Kopf.
Ella schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, das Kältegefühl abzuschütteln, das sich in ihrem Inneren ausbreitete. Die Fröhlichkeit war mit einem Schlag wie weggewischt.
“Liebst du sie immer noch?”
Harris zögerte und schien mit einem Mal um Jahre gealtert zu sein. “Ich weiß es nicht. Ich denke, auf einer gewissen Ebene liebe ich sie.”
“Aber sie lebt nicht mehr bei euch. Sie ist gegangen.”
“Nein. Oder ja. Wie auch immer”, sagte er ärgerlich. “Sie hat uns kurz nach Marions Geburt verlassen und kommt ab und zu vorbei. Meistens unangekündigt, wenn sie mal wieder Geld braucht. Sie bleibt eine Weile – lange genug, um Marion Hoffnungen zu machen, dass wir wieder eine Familie sein könnten –, und dann verschwindet sie wieder.”
Ella hörte die Bitterkeit in seiner Stimme. Und sie hörte auch, dass Fannie seine Hoffnungen nicht weckte, wie seine Mutter es getan hatte. Fast hätte sie die Hand ausgestreckt, um ihn zu berühren, zu beruhigen, die Traurigkeit aus seinem Gesicht zu vertreiben – aber sie konnte es nicht ertragen, ihn in diesem
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