Dem Himmel entgegen
Blitz getroffen wurde. Er war nur nahe genug an dem Platz, wo der Blitz einschlug, um sich schwere Verletzungen einzuhandeln.”
Harris legte behutsam den Arm um sie und zog die Decke enger. “Es gibt nichts, wovor Sie sich fürchten müssen. Wir werden es schon heil überstehen.”
Sie schmiegte sich in die Decke, die nicht sehr warm hielt. “Ich hasse Gewitter. Das war schon immer so.”
“Wirklich? Ich mochte Stürme, seit ich ein Kind war. Damals habe ich mich auf den Boden gelegt und den Blitz beobachtet – wenn ich einen sah, habe ich gezählt, bis ich den Donner hörte, so wusste ich, wie weit das Gewitter von mir entfernt war. Das fand ich immer lustig.”
“Stimmt. Das hat jeder getan. Aber ich habe dabei mehr an meine eigene Sicherheit gedacht und nicht so sehr an den Spaß.”
Ein grelles Zucken erhellte den Himmel.
Ihre Blicke trafen sich, und sie begannen, in einer Art stiller Übereinkunft, zu zählen. “Eins, zwei …” In diesem Moment war ein dumpfes Donnergrollen zu hören, das langsam lauter wurde.
“Es ist ganz nah”, wisperte sie.
Er verzog sein Gesicht in gespielter Angst.
“Meine Mutter und mein Vater sind bei einem Gewitter ums Leben gekommen.”
Sein Lächeln erstarb. “Das tut mir Leid, Ella.”
“Das Gewitter hat zu dem Unfall geführt. Der Regen war stark, so stark wie heute, und die Straßen waren glatt. Sie hatten keine Chance. Ich war erst fünf Jahre alt, aber ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Ich stand im Haus meiner Tanten am Fenster, sah in den Sturm hinaus und wartete. Wartete, dass sie endlich nach Hause kamen. Ich hatte solche Angst um sie.” Wieder donnerte es, und sie klammerte sich an ihn. “Ich
hasse
es”, sagte sie heiser. “Noch heute habe ich Albträume.”
“Schhhh … Ella … Ich lasse nicht zu, dass Ihnen irgendetwas geschieht. Das verspreche ich.”
Sie schob ihre zarten Hände unter seine Jacke und schmiegte sich an seine Brust. Der Sturm verdunkelte den Himmel, und sie drängten sich unter die Plane. “Das hat noch nie jemand zu mir gesagt”, wisperte Ella.
“Dass er nicht zulässt, dass Ihnen etwas geschieht?”
Sie schüttelte den Kopf. “Ich träumte immer, dass mein Vater solche Sachen zu mir gesagt hat, als ich noch sehr klein war. Als ich dann größer wurde, habe ich geträumt, ein Mann würde so etwas zu mir sagen. Eines Tages. Ein kindischer Traum. Die Prinzessin wartet auf ihren Prinzen …” Sie lachte kläglich. “Keiner dieser Träume ist wahr geworden.”
Es entstand eine lange Pause, und Ella schloss die Augen. Sie fühlte sich plötzlich so nackt und ungeschützt, so viel hatte sie über sich preisgegeben.
“Ich dachte immer, Sie bräuchten niemanden, der auf Sie Acht gibt”, sagte Harris.
Er flüsterte fast, aber in der Enge des Zeltes hörten sich seine Worte an, als hätte er sie geschrien. Vielleicht lag es auch daran, dass, obschon die Worte in gewisser Weise stimmten, sie doch auch so falsch waren, dass Ella erschauderte, als sie vernahm.
“Es stimmt. Ich habe meistens auf mich selbst aufgepasst, weil ich es musste. Und, offen gesagt, es hat sich auch nie jemand freiwillig angeboten, diesen Job für mich zu übernehmen. Ein Mensch kann einfallsreich und kompetent sein, und doch braucht er jemanden, der sich um ihn kümmert, ihn beschützt.” Sie atmete tief ein. “Damit man nicht allein ist.”
Sie konnte spüren, wie sich sein Brustkorb hob und senkte.
“Fühlen Sie sich denn allein, Ella Majors?”
Etwas in der Art, wie er es sagte, gedämpft und heiser, mit schwerem Atem, ließ sie ahnen, dass diese Frage nicht nur bloßer Neugier entsprang. Und sie ahnte, dass ihre Antwort Konsequenzen haben würde.
Sie überlegte sich, was sie sagen wollte.
Ja, ich habe mich sehr lange sehr einsam gefühlt, doch nie habe ich den Schmerz des Alleinseins so stark gespürt wie in den letzten Monaten – wenn ich allein in meinem Bett lag und wusste, dass auch du allein in deinem Bett liegst, gar nicht weit entfernt von mir. Ich wusste, dass ich dich liebe, doch du hast mich nur als Marions Nanny gesehen. Als Kollege. Als Freund
.
Sie klammerte sich an sein T-Shirt, formte die Worte mit den Lippen und konnte sie doch nicht aussprechen. Plötzlich weinte sie. Sie! Ella weinte so gut wie nie und schämte sich ihrer Tränen, die einfach nicht aufhören wollten, über ihre Wangen zu kullern.
Er hob mit seiner Hand sanft ihr Kinn an und sagte: “Es ist gut, Ella. Es ist schon gut.”
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