Dem Himmel entgegen
während sie immer und immer wieder über Harris und sich nachdachte. Die Stunden verstrichen. Der Mond stand hoch am Himmel und warf sein blasses Licht in ihr Zimmer. Ella ahnte, dass es bereits weit nach Mitternacht sein musste. Geisterstunde.
Plötzlich wurde die Stille der Nacht durch den schauerlichen Schrei eines Streifenkauzes zerrissen. Es kam keine Antwort. Lijah hatte erzählt, dass der Schrei eine Eule zur Geisterstunde eine böses Vorzeichen war. Sie zitterte und dachte, dass sie vor den Geistern der Toten keine Angst hatte. Seelen, die zwischen den Welten reisten, machten ihre keine Angst. Es waren die Geister der Lebenden, die sie verfolgten und sie um den Schlaf brachten.
Sie saß in ihrem Bett, matt und erschöpft durch die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen und die Rastlosigkeit, die sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Nur schwache Menschen glauben an solche Märchen, sagte sie sich und schloss das Fenster, damit sie den einsamen Ruf des Kauzes nicht mehr hören konnte. Sie war nicht schwach. Sie war stark, das war sie schon immer gewesen. Was hatte Harris ihr gesagt? Irgendetwas wie, dass sie niemanden brauchte, der sich um sie kümmerte? “Dann soll es so sein”, sagte sie entschlossen.
Sie öffnete die Schlafzimmertür und huschte barfuß durch den Flur zu Harris’ Zimmer. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Ella griff nach dem Türknauf, um die Tür leise ins Schloss zu ziehen. Marion war in dieser Nacht kaum zum Schlafen zu bewegen gewesen. Ella wollte verhindern, dass die Diskussionen, die sich entspinnen würden, das Mädchen in ihrem Bett aufweckten.
Sie hatte etwas vor in dieser Nacht. Sie wollte zu ihm gehen. Ihn fragen, warum er die Beziehung mit Fannie nicht ein für allemal klärte. Ihn fragen, warum er sie die letzten Wochen umworben hatte, warum er ihre Hand gehalten und ihr versteckte Blicke zugeworfen hatte. Warum er es zugelassen hatte, dass sie sich in ihn verliebte, obwohl er wusste, dass diese Liebe sie zerstören würde? Sie würde ihm zuhören, egal wie schmerzhaft es auch sein würde, denn sie brauchte Gewissheit.
Dann würde sie ihm sagen, dass sie nicht bleiben könne. Wie oft sie auch darüber nachgrübelte, die Wahrheit war, dass er nun einmal verheiratet sei. Und sie würde keine Affäre mit einem verheirateten Mann beginnen.
All diese Gedanken trug sie in ihrem Herzen, und sie war entschlossen, es ihm zu sagen. Mit jedem Schritt schlug ihr Herz lauter, und die Aufregung schnürte ihr fast die Kehle zu. Sie hob ihre Hand und klopfte zwei Mal an seine Tür. Eigentlich hatte sie ein schläfriges “Ja, wer ist da?” erwartet und erschrak, als stattdessen die Tür sofort aufgerissen wurde.
Da stand er nun vor ihr in seinen langen Pyjamahosen und mit bloßem Oberkörper. Sein Kinn war stoppelig und seine Haare zerzaust. Offensichtlich hatte er auch nicht geschlafen; seine rotgeränderten Augen sahen müde aus. Als sich ihre Blicke im bleichen Licht des Mondes trafen, hörte sie in ihrem Inneren ihr Herz aufschreien. All ihre guten Vorsätze lösten sich in Nichts auf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
“Liebst du mich?” fragte sie.
Das war nicht die Frage, die sie ihm eigentlich hatte stellen wollen, aber es war die einzige, deren Antwort sie interessierte.
“Ja”, sagte er schlicht.
Ella seufzte tief, und ihr Herz verstummte.
Manchmal werden Entscheidungen ganz leicht getroffen. Manchmal fallen sie erst nach einem langen, harten Kampf. Und manchmal, erkannte sie, muss man sich gar nicht entscheiden. Manchmal treibt man einfach wie ein Blatt in der Strömung eines Flusses und gerät vielleicht in einen Strudel. Dann wirbelt man herum, hilflos, endlos, bis das Glück einen befreit.
Die Liebe hatte Ella befreit. Sie sog die Luft ein, trat in die Strömung, die sie mitreißen sollte, und sagte: “Ich liebe dich auch.”
Im Morgengrauen des nächsten Tages erhob sich Ella aus Harris’ Bett und schlüpfte schnell in ihre Jeans und ihr T-Shirt. Sie hatte nur wenige Stunden geschlafen, aber sie fühlte sich ausgeruht und frisch und wollte Harris unbedingt auf seinem morgendlichen Rundgang begleiten. Sie liefen eng umschlungen, und bei jedem Schritt berührten sich ihre Hüften. Nicht für einen einzigen Moment konnten sie es ertragen, voneinander zu lassen. Zuerst liefen sie um die Pferche und Volieren herum, dann holte er Cinnamon aus den Stallungen. Das schlanke mahagonifarbene Bussardweibchen war bereit für seinen Morgenausflug, aber es
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