Dem Himmel entgegen
Schlafzimmerfenster war offen, und die Vorhänge flatterten sanft in der leichten Brise, die mit dem Saum ihres reinen weißen Baumwollnachthemdes flirtete. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Immer wenn sie die Augen schloss, tauchte Harris’ Bild vor ihr auf. Jeden einzelnen Moment, den sie gemeinsam unter der Zeltplane verbracht hatten, trat ihr schmerzhaft in Erinnerung. Nachdem sie sich einander hingegeben hatten, lagen sie noch lange Zeit Arm in Arm in ihrem Nest. Diese zarte Nähe hatte sie als süßer und wertvoller empfunden als die körperliche Verbundenheit, die sie einige Augenblicke zuvor geteilt hatten. Es war anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. War es so, wenn man abhängig von etwas war? fragte sie sich. Wenn man einmal etwas so Überwältigendes und Befreiendes erlebt hatte, konnte man dann einfach nicht die Kraft aufbringen, dem zu widerstehen?
Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie nachvollziehen, warum Frauen Affären mit verheirateten Männern anfingen. Ella blickte an die Decke und fragte sich, was so falsch daran wäre, Harris zu lieben. Schließlich hatte Fannie ihn verlassen. Sie hatte nicht einmal mit ihnen zusammengelebt und sich sicherlich auch nicht um sie gesorgt. Harris und Fannie waren also nicht
wirklich
verheiratet.
Trotzdem ließ Harris sich nicht scheiden, sondern erhielt die Ehe aufrecht. Diese Verbindung war eine unumstößliche Tatsache. Der Brocken im Kropf, der nicht hinuntergeschluckt werden konnte. Er sagte, er fühle sich ihr verpflichtet, in guten wie in schlechten Zeiten. Er liebte sie. Ella seufzte frustriert und strich sich über die Stirn. Sie würde ihn ja für einen Idioten halten, wenn diese Einstellung nicht so verdammt nobel und anständig wäre.
Damals, an dem Tag, als sie am Kai gesessen und geangelt hatten, hatte sie also Recht gehabt. Er
war
wie der Fischadler oder der Adler – die Greifvögel, die er am meisten liebte. Sie blieben immer am selben Ort und lebten monogam. Er hatte es ihr an jenem Tag erzählt! Es war eine so offensichtliche Wahrheit! Sie war nur von ihrer Liebe zu ihm so geblendet gewesen, dass sie es nicht gesehen hatte.
Es machte sie zu zornig und hilflos, darüber nachzudenken. Aber wenn sie die Vogel-Analogie zu Ende dachte, war es doch so, dass der Partner des Adlers nicht mehr da war. Das Nest war leer, und jetzt war
sie
da und kümmerte sich um das Küken. Wenn das der Lauf der Natur war, sollte es so sein! Warum sollte sie sich dann noch schuldig fühlen für das, was sie empfand?
Diese Vorstellung erfüllte sie mit Hoffnung. Sie sagte sich, dass sie im Recht war. Es war nichts Verwerfliches an einer Beziehung mit Harris. Und sie würde Harris nicht kampflos aufgeben.
Was würde denn passieren,
wenn
sie eine Affäre mit ihm hätte? Würde sich irgendetwas ändern, außer dass er den Flur runterkam, um mit ihr das Bett zu teilen? Sie würde sich immer noch um ihr Haus und Marion kümmern und immer noch in der Klinik aushelfen. Nein, sagte sie sich, nichts würde sich ändern.
Ella schloss die Augen und wünschte, sie könnte sich selbst davon überzeugen, aber eine verräterische Stimme in ihrem Inneren flüsterte, dass sich
alles
ändern würde.
Die Nacht war still, nicht einmal die Vögel zwitscherten. Sie drehte sich rastlos von einer Seite auf die andere. Ihr Geist wollte einfach nicht zur Ruhe kommen. Sie öffnete die Augen. Zwar war sie erschöpft, aber den Gedanken an Schlaf hatte sie verworfen. Was Harris wohl gerade tat, fragte sie sich. Lag er auch wach? Raubte ihm die Angst vor ihrer Entscheidung ebenso den Schlaf? Oder lag er in seinem schmalen Bett, selig schlummernd, sich ihrer Qualen nicht bewusst? Sie rollte sich auf den Rücken und starrte durch die grauschwarze Nacht an die Decke.
Männer mussten sich keine Gedanken über den Ruf der Frauen machen, mit denen sie schliefen. Sie wäre die
andere Frau
. Die Geliebte. Die
Familien-Zerstörerin
. Und das wären noch die netteren Wörter, die man über sie sagen würde. Was würde Maggie glauben, dachte sie und atmete tief ein. Mit einem Mal wurde ihr klar, warum das Kind so zweifelnd geschaut hatte, als Harris und sie zum Angeln gegangen waren. Sie
wusste
, dass Harris verheiratet war.
Hatte es jeder gewusst, außer ihr? Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht. Wie konnte sie nur so dumm und blind gewesen sein? Warum hatte sie einfach angenommen, dass er geschieden war?
Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf ihren Brustkorb,
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