Dem Leben Sinn geben
Gegenteil: Die allgemeine Evolution profitiert davon, da sie selbst viel zu langsam ist für kurzfristige Reaktionen auf veränderte Bedingungen des Lebens. Jede Abweichung vom Gewöhnlichen bedarf außerdem erst der Erprobung im Kleinen, bevor sie, wie dies in der Geschichte schon oft geschehen ist, große Verbreitung finden kann.
In diesem umfassenden Prozess hat es sich allerdings seit langem als vorteilhaft erwiesen, dass die Natur das Experiment, das jeder Einzelne mit seinem Leben macht, mit seinem Tod abbricht, um Platz für neues Leben mit neuen Experimenten zu schaffen. Viele sehen im Tod dennoch einen Irrtum, der der Natur unterlaufen ist, ein äußerstes Ärgernis,das ihnen die Liebe zum Leben verleidet. Andere können mit dem Tod leben, wenn es denn sein muss. Die Lebenskunst als bewusste Lebensführung ist nicht von vornherein auf diese oder jene Option festgelegt, sondern beruht darauf, mit einer Besinnung die eigene Haltung zu finden. Verschiedene Umgangsweisen mit dem Tod stehen offen.
Liebe zum Tod, Liebe bis in den Tod
Niemand kommt umhin, irgendeine Beziehung zum Tod einzugehen, sei sie positiv oder negativ oder gleichgültig. Die positiven Beziehungen des Liebens, Befreundens, Mögens eröffnen die Möglichkeit, ihn zu akzeptieren, statt gegen ihn (letzten Endes vergeblich) anzukämpfen. Am weitesten geht die Liebe zum Tod , die die Nähe zu ihm nicht scheut, sie womöglich ganz im Gegenteil sucht. Und wenn schon nicht Liebe, dann wenigstens Freundschaft oder Kollegialität: Sich zu befreunden mit dem Tod oder ihn zu mögen wie einen Kollegen, auf den Verlass ist, erleichtert den Umgang mit ihm. Das muss nicht darauf hinauslaufen, in einem finalen Akt willentlich die Vereinigung mit ihm zu vollziehen, aber es wird möglich, ihn in seinem Recht anzuerkennen, ihm Sinn zuzubilligen, ihn sogar für schön und bejahenswert zu halten.
Die Erneuerung des Lebens kann ein natürlicher Sinn des Todes sein: Das Ende des einzelnen Lebens stellt die Erneuerung des gesamten Lebens sicher. Hätte der Tod nicht auf diese Weise die Entwicklung des Lebens befördert, wäre er nicht zum Erfolgsmodell der Evolution geworden; ihr Standardmodell hätte vielmehr die amöbenhafte Unsterblichkeit werden können. Ein möglicher Sinn des Todes könnte auch sein, dasser den Wert des Lebens fühlbar macht und in diesem Sinne dem Leben Sinn gibt. Wertvoll erscheint Menschen nur das, was begrenzt verfügbar ist, Gold beispielsweise, und so verhält es sich auch mit dem Gold des Lebens: Seine zeitliche Begrenztheit macht es kostbar, bei einer Entgrenzung der Zeit wäre ein gravierender Verfall seines Werts zu befürchten.
Die Begrenztheit des Lebens ist so gesehen kein Mangel, sondern eine Bedingung des Lebens, um in diesem zeitlichen Rahmen Fülle erfahren zu können: Nur das lässt sich füllen, was begrenzt ist, und nur dort, wo Grenzen sind, sind Formen möglich, auch die Form des Lebens selbst. Insofern ist der Tod ein Teil der Fülle des Lebens, ein Ansporn zum Leben, um es innerhalb seiner Grenzen voll und ganz zu leben, auch wenn dies nicht bedeuten kann, sämtliche Möglichkeiten auszuleben, denn dafür reicht keine Endlichkeit aus. Fülle ergibt sich daraus, ausgewählte Möglichkeiten so weit wie möglich zu verwirklichen. Und hinzunehmen, dass vieles offen bleibt.
Am leichtesten könnte der Umgang mit dem Tod auf der Basis einer funktionalen Beziehung fallen, wenn ihm also zugestanden würde, dass er eine Funktion zu erfüllen hat und einfach nur seinen Job macht: Kein Grund, ihm dafür dankbar zu sein, aber auch nicht, sich darüber zu entrüsten, eher ein Grund, gleichgültig gegen das Geschehen zu bleiben, das uhrwerkmäßig seinen Gang geht.
Die weiteste Verbreitung scheint in moderner Zeit jedoch nicht die funktionale, sondern die agonale Beziehung eines Kampfes gegen den Tod gefunden zu haben. Diese Beziehung weiß gute Gründe auf ihrer Seite, denn in einer Welt, die auf das ewig junge Leben setzt, hat das Ärgernis des Älterwerdens und Sterbens keinen Platz mehr, am besten, es würde verschwinden. Könnte das bewerkstelligt werden, wäre derÜbergang zu einer ausschließenden Beziehung zum Tod vollzogen. Kann es gelingen, ihn aus dem Leben auszuschließen?
Der Versuch wird unternommen, mit allen wissenschaftlichen und technischen Mitteln wird daran gearbeitet. Die Bedingung dafür ist, zumindest die biologische Erneuerungsfähigkeit des Lebens, die seit unvordenklichen Zeiten durch Werden und Vergehen
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