Dem Leben Sinn geben
Rückbesinnung auf humane Quellen des Sinns zu beantworten, aus denen Menschen auch dann Kraft schöpfen können, wenn ihnen kein transhumaner Sinn mehr zur Verfügung steht. Gedanken über den Sinn des Lebens, des Leidens und Sterbens, sagt Frankl, seien das Einzige gewesen, »was uns noch helfen konnte«. Mit einem Anklang an Nietzsches Art der Lebensbejahung zeigt er sich davon überzeugt, »dass menschliches Leben immer und unter allen Umständen Sinn habe« und dass dieser Sinn auch noch »Leiden und Sterben, Not und Tod in sich mit einbegreife« ( … trotzdem Ja zum Leben sagen , 1946, Ausgabe 1977, 133).
Den Versuch, nicht mehr von einem Zentralgestirn des Sinns auszugehen, um das sich das ganze Universum dreht und dessen energiereiche Strahlen Menschen mit Sinn versorgen, ohne dass diese sich dessen so recht bewusst wären, deutet Frankl als »kopernikanische Wende«: »Was hier not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens« ( … trotzdem Ja zum Leben sagen , 124). Als Sinnressource will er das menschliche Leben selbst verstehen: In ihm Sinn zu finden und ihm Sinn zu geben, wird zur Herausforderung, die nach dem Versiegen metaphysischer Quellen jeden Einzelnen angeht. Die leitende Frage soll dabei nicht sein, was vom Leben zu erwarten ist, sondern » was das Leben von uns erwartet «.
Niemand könne sagen, was der Sinn des Lebens im Allgemeinen sei, eine besondere Antwort auf die Frage danach ergebe sich jedoch im Leben jedes Einzelnen aus den »Forderungen des Lebens an uns«. Leben, so Frankl unter der Überschrift »Nach dem Sinn des Lebens fragen«, sei letztlich nichts Anderes als die »Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt«. Wie jeder dem gerecht zu werden versucht, zeichnet die Einmaligkeit und Einzigartigkeit aus, die seinem Dasein erst Sinn verleiht.
Unverkennbar vertritt »das Leben« hier die verwaiste metaphysische Stelle. Um aber von dieser Position aus nicht etwa von Neuem extreme Glaubenssätze zu verkünden, erscheint es sinnvoll, die anstehende Sinnfindung und Sinngebung von vornherein unter einen Sinn-Vorbehalt zu stellen: In Frage steht nicht mehr der einzig mögliche Sinn des Lebens und des Schicksals, sondern der eine unter vielen, den ein Mensch für sich selbst für überzeugend hält und auf den er sein Leben zu bauen bereit ist. Vorbehalte gegen »den Sinn« müssen dabei nicht auf eine Sinn-Abstinenz hinauslaufen: Sogar dann, wenn das Leben an sich keinen Sinn haben sollte, ist es möglich, vielfachen Sinn im Leben zu finden. Die Vorbehalte machen es leichter, jeden Sinn bisweilen wieder kritisch zu befragen, neue Überlegungen anzustellen, gemachte Erfahrungen zu berücksichtigen und jegliche Sinn-Arroganz zu vermeiden, die über Sinn und Sinnlosigkeit zweifelsfrei Bescheid zu wissen glaubt. Ein Wesen von einem fernen Stern könnte lächeln über den Anspruch des Wesens Mensch auf dem Planeten Erde, letzte Klarheit über Sinn oder Sinnlosigkeit haben zu wollen. Es käme aber wohl selbst nicht darum herum, eine bestimmte Deutung zu favorisieren, die sein Lächeln erst ermöglichen würde.
Auf mehreren Ebenen ist es einem Menschen möglich, Sinn im Leben zu finden und dem Leben selbst Sinn zu geben.Die elementarsten Sinn-Zusammenhänge zwischen Selbst und Welt, Selbst und Anderen verdanken sich den körperlichen Sinnen , vorausgesetzt, sie können sich ausreichend entfalten. Immer und überall stellen die fünf Sinne des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens Sinn zur Verfügung, mit ihnen ist die Vielfalt des Lebens in allen Erscheinungsformen wahrzunehmen, mit einem sechsten Sinn in der Bewegung zu erfahren und mit einem siebten Sinn im Körperinneren selbst zu erspüren. Die Sinnlichkeit eines schönen Anblicks, also einer »Augenweide«, auch eines Musikstücks, eines betörenden Geruchs, eines guten Essens und einer Umarmung regeneriert mühelos die Kräfte eines Menschen und setzt Energien frei, die gerade in Zeiten der Mutlosigkeit direkt in Mut umzusetzen sind. Sehr viel Kraft ist aus der sinnlichen Begegnung mit der Natur zu beziehen, in der auf staunenswerte Weise alles mit allem zusammenhängt und in die ein Mensch sich wenigstens für einen Moment wieder eingegliedert fühlen kann.
In Zeiten voller Sinnlichkeit ist es leicht, das Leben zu lieben, und die einzige Voraussetzung dafür ist, diesen Zeiten eine Chance zu geben, sie auch selbst zu arrangieren und sie tief in sich aufzunehmen. Für den, der
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