Dem Leben Sinn geben
nicht zu entkommen ist; an einem Werk zu arbeiten, das einer langen Anstrengung bedarf; für die Realisierung einer Idee zu kämpfen, die überzeugend erscheint. Der Mut, Mühen auf sich zu nehmen und Schwierigkeiten zu überwinden, wird gefestigt von Zielen und Zwecken; ein Mangel daran kann jedoch eine Perspektivlosigkeit entstehen lassen, die als Sinnlosigkeit des Lebens erfahren wird. Die innere, seelisch-geistige Leere, die mutlos und kraftlos macht, wirkt sich womöglich auch äußerlich aus, wie bereits Frankl meinte: Mut und Mutlosigkeit beeinflussen die »Immunitätslage des Organismus« ( … trotzdem Ja zum Leben sagen , 122). Daher kommt individuell und gesellschaftlich so viel darauf an, sich und Anderen Perspektiven aufzuzeigen, und das geschieht zuallererst mit gedanklicher Arbeit, mit Deutung und Interpretation.
Die weitestmögliche Perspektive und reichste Energiequelle tut sich jedoch auf, wenn die gewöhnliche Erfahrungswelt überschritten werden kann. Ein Sinn über das Leben hinaus kommt dabei in den Blick, der nicht an die Beweisführung gebunden ist, dass es ihn wirklich gibt. Dass ein transzendenter Sinn möglich ist, kann ein Mensch erahnen, wenn er in intensiver Sinnlichkeit, in der starken Bewegtheit durch Gefühle und bei ausgiebigen Exkursionen ins Reich der Gedanken ungewöhnlich tief in die Energien eintaucht, die dem Leben womöglich zugrundeliegen. Zeiten der Selbstvergessenheit lassen den Eindruck wach werden, dass es »noch etwas Anderes gibt«, und die Auflösung des Zeitgefühls in solchen Momenten gibt der Vermutung Nahrung, dass die Energie, die dabeierfahrbar wird, das Eigentliche des Selbst ist, das nicht den Bedingungen der Zeitlichkeit unterliegt. Die Möglichkeit der Einbettung des endlichen Lebens in eine unendliche Dimension ermutigt zur Deutung, dass das Leben am Ende nicht in ein Nichts stürzt, sondern in etwas Anderes und Größeres übergeht. Auf die Möglichkeiten eines anderen Lebens und vielleicht einer endlosen Abfolge von Gestalten des Lebens setzen zu können, entlastet mich vom Lebensstress, dem angeblich »einzigen Leben« alles abverlangen zu müssen. Und gerade dann, wenn ich mich nicht ängstlich an das gegenwärtige Leben klammern muss, wird die freieste Liebe zum Leben möglich.
Der mögliche Sinn über das Leben hinaus bringt auch das große Warum und Wozu in den Blick, von dem das Denken und Deuten der Menschen seit jeher umgetrieben wird: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Vielleicht nur, weil es irgendwann in der kosmischen Entwicklung möglich geworden ist, dass Atome entstehen, die sich zu Molekülen fügen, diese sich zu Ketten von Molekülen, die sich zu reproduzieren beginnen. Unter den zahllosen Möglichkeiten, die blind durchgespielt werden, erwies sich dabei die des Lebens als besonders ausbaufähig.
Und wozu gibt es Leben? Vielleicht nur, um vollständig zu verwirklichen, was möglich ist, im Laufe endloser Zeiten alle Möglichkeiten auszuschöpfen und dann wieder von vorne anzufangen: Nietzsches Gedanke der Ewigen Wiederkehr. Und wozu gibt es menschliches Leben? Damit auch diese Möglichkeit wirklich wird. Sein evolutionärer Sinn ist ein Beitrag zur Biodiversität, eine Möglichkeit unter vielen, nichts weiter: Da ist eben auch Platz für ein Wesen, das den unerschöpflichen Reichtum des Lebens erweitern und dessen prachtvolle Entfaltung wahrnehmen und mitgestalten kann. Der Sinn des Lebens ist die volle Entfaltung des Lebens.
Jedenfalls kann ein Mensch diesen Sinn im Leben sehen oder dem Leben diesen Sinn geben und mit seiner Lebenskunst die Fragen für sich selbst beantworten: Was kann ich dazu beitragen? Welche Möglichkeit ist meine eigene? Was kann ich zu ihrer Verwirklichung tun? Kann ich die Möglichkeiten Anderer so respektieren, wie ich das von ihnen für mich selbst erhoffe? Wie reagiere ich, wenn Andere meine Möglichkeiten oder die von Anderen zerstören? Wie trage ich Sorge dafür, dies nicht selbst zu tun?
Träume und Phantasien dienen dazu, Möglichkeiten aufzuspüren und einige als die eigenen zu erkennen, die zu verwirklichen sind. Das Gelingen einer Verwirklichung ist wünschenswert, aber nicht notwendig: Auch das Misslingen ist wertvoll, um in Erfahrung zu bringen, was nicht wirklich werden kann, jedenfalls nicht jetzt. Auf den Ergebnissen der individuellen Evolution kann die allgemeine aufbauen. Aus der Sicht des Ganzen sind die Erfahrungen des Einzelnen nicht bedeutungslos, ganz im
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