Dem Leben Sinn geben
geleistet wird, dauerhaft in das einzelne Leben integrieren zu können. Dem ist die Telomer-Forschung auf der Spur, die entdeckte, dass die Reproduktion der Zellen durch die Enden der DNS-Fäden gesichert wird, durch Telomere (griechisch telos für Ende und meros für Teil; Nobelpreis 2009 für die Biologen Elizabeth Blackburn, Carol Greider und Jack Szostak). Mit fortschreitendem Alter werden sie abgenutzt, aber das »Jungbrunnenenzym« Telomerase kann sie reparieren, und dieser Prozess könnte auch künstlich eingeleitet werden.
Was aber soll aus dem Leben werden, wenn es keinen Tod mehr gibt? Wie fühlt sich ein Leben an, das nicht mehr endet? Kann das ewige Leben spannend sein? Bleibt die Lebensfreude dabei erhalten? Leoš Janáˇcek hat diese Situation in seiner 1926 uraufgeführten Oper Die Sache Makropulos nach einem Text von Karel Cˇapek schon mal durchgespielt: Ohne Tod könnte sich das Leben endlos hinziehen, jeden Reiz verlieren und furchtbar öde werden. Die Unsterblichen hätten einen Preis zu bezahlen, der ihren Gewinn an Jahren wieder zunichtemachte: Tödliche Langeweile.
Sollte der sterbende Tod Wirklichkeit werden, müsste diese neue Wirklichkeit außerdem ins Leben der Gesellschaft integriert werden, die einige Zeit brauchen würde, um sich unter den veränderten Bedingungen neu einzuspielen. Im Laufe der Abwesenheit des Todes könnte sich noch die Einsicht einstellen, dass er nicht so sinnlos war, wie viele Menschen einstmalsmeinten. Nostalgisch würden Menschen sich an die Zeit erinnern, als der Tod dem Leben irgendwann noch von selbst eine Grenze zog, in den meisten Fällen zwar zur falschen Zeit, aber immerhin eine Grenze. Sollte die Grenzziehung ausbleiben und sich dennoch als unverzichtbar erweisen, würde es wohl endgültig zu den Aufgaben der Lebenskunst gehören, die Grenze des eigenen Lebens selbst festzulegen.
Grundsätzlich ist das Verhältnis des Menschen zu seinem Leben ohnehin eine Frage der Wahl und eben auch der Abwahl . Darüber, ob er die Beziehung zum Leben tatsächlich auflösen will, entscheidet der Einzelne selbst: Dass die Lebenskunst eine Kunst des Sterbens in diesem Sinne umfassen kann, sah bereits Seneca im 1. Jahrhundert n. Chr. so ( Briefe an Lucilius über Ethik , 70). In der Wiederentdeckung dieser Option in moderner Zeit zeigte sich für Nietzsche ein »neuer Stolz des Menschen, der sich sein Ende setzt und eine neue Festfeier erfindet – das Ableben« ( Nachgelassene Fragmente von 1881, KSA 9, 472).
Strittig kann sein, ob es sich dabei wirklich um eine freie Wahl handelt. Zweifellos ist nicht jede Selbsttötung ein Freitod, und doch wäre es anmaßend, jegliche Freiheit in jedem Fall zu bestreiten. Gegensätzliche Gründe können dabei im Spiel sein: Tiefe Verzweiflung über das Leben, das nicht mehr lebenswert erscheint, aber auch das Gefühl der Erfülltheit , unabhängig davon, dass der, der verzweifelt, sich ebenso täuschen kann wie der, der sich erfüllt fühlt. Der Tod kann als definitiver Endpunkt eines verzweifelten oder erfüllten Lebens gesucht werden, aber auch als Durchgangspunkt zu einer unendlichen Weite, die die Seele im endlichen Leben nicht zu erreichen vermag.
Mit einer egoistischen Selbsttötung kann ein Mensch Anderen die Lasten hinterlassen, die er selbst nicht mehr tragen will,ihnen vielleicht sogar bewusst die Last aufbürden, die dieser Tod für sie sein kann. Eine altruistische Selbsttötung hingegen soll Andere eher von der Last befreien, zu der das Selbst aus eigener Sicht für sie geworden ist. Es kann sich um eine kurzschlüssige, wenig überlegte Selbsttötung oder aber um eine lange überlegte handeln, wenn das Leben nicht mehr auszuhalten ist oder das Sterben im Falle einer unheilbaren Krankheit abgekürzt werden soll. Der Fotograf und frühere Playboy Gunter Sachs setzte seinem Leben 2011 im Alter von 78 Jahren selbst ein Ende, als er eine beginnende Demenz bei sich feststellte: Im Verlust der geistigen Kontrolle sah er einen würdelosen Zustand, dem er entgehen wollte.
Die Selbsttötung kann der Schlusspunkt eines leidenschaftlichen Lebens sein, in dem vielleicht die eigenen Kräfte aufgeputscht und ausgepresst wurden und auch ein selbstschädigendes Verhalten gerechtfertigt erschien. Zuweilen markiert sie jedoch auch den planmäßigen Abschluss einer funktionalen Beziehung zum Leben oder beendet eine lange Auseinandersetzung mit ihm. Sie kann zudem die letzte Konsequenz eines Selbstausschlusses aus dem Leben sein, der
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