Dem Leben Sinn geben
nicht ernsthaft vorstellen, dass es irgendwann so sein wird. Sterblich fühle ich mich nur an ungewöhnlichen, ungeraden Tagen, an denen ich krank und verzweifelt bin: Dann halte ich nichts für realer als den Tod. An gewöhnlichen, geraden Tagen hingegen, die nichts Besonderes an sich haben, halte ich mich für unsterblich und den Tod für vollkommen irreal. Mein Leben erscheint mir dann wie ein Traum, als würde ich von außen, von einem fernen Stern darauf blicken, auf dem ich mein eigentliches Leben lebe, abseits aller Endlichkeit.
Aber das hilft meiner Tochter jetzt nicht weiter: Zum ersten Mal wird ihr bewusst, dass es den Tod gibt und dass er das Leben mit den liebsten Menschen begrenzt. Ich will ihr erklären, dass das Leben gerade deshalb so schön ist, weil es irgendwann zu Ende geht, und das Zusammensein so wertvoll, weil es nur für begrenzte Zeit möglich ist, jedenfalls in diesem Leben. Als ich nicht mehr weiter weiß, singe ich ein Frühlingslied, aber das Kind kann sich nicht beruhigen: Ein entscheidendes Stück der kindlichen Unbefangenheit geht mit dem Wissen vom Tod verloren. Die Menschheitsgeschichte wiederholt sich in diesem Moment, denn das Werden des Menschen ging wohl mit dem Bewusstwerden des Todes einher, und mit der Unruhe, wohin ein Mensch dann geht: Was kommt nach dem Tod? Was bleibt? Die Seele? Was ist die Seele? Ein göttlicher Hauch? Was ist Gott? Gibt es ihn wirklich?
Als die Tochter das nächste Spiel entdeckt, vergisst sie ihre Traurigkeit rasch. So behilft sich das menschliche Leben, undauch dies vermutlich schon seit unvordenklicher Zeit. Und doch ist das der philosophische Moment, den schon die antiken Schulen der Philosophie vorsätzlich forcierten: Memento mori ( mori als Kurzform für moriendum esse ), bedenke, dass du sterblich bist. Das Denken an den Tod geschieht von selbst am Grab geliebter Menschen, das dem Denken an den Toten einen Ort gibt. Eine abgrundtiefe Traurigkeit kann sich daraus ergeben, dass der geliebte Mensch nicht mehr da ist, auch aus dem neu erwachten Wissen um die Vergänglichkeit des eigenen Lebens und überhaupt allen Lebens. Wie kaum irgendwo sonst kann ich hier erfahren, dass ich es bin, der dieses Leben lebt. Und hier ist die Erkenntnis unabweisbar, dass es einmal vorbei sein wird mit diesem Ich. Eine existenzielle Reduktion findet statt, das Leben wird auf seine wesentlichen Koordinaten zurückverwiesen: Dass ich geboren bin, dass ich Geburt und Heranwachsen meinen Eltern verdanke, im Guten wie im Schlechten; dass ich ein endliches Wesen auf diesem Gestirn bin, mit ihm unterwegs durch unendliche Räume und Zeiten; dass ich dankbar sein kann für die angenehmen, vielleicht auch für die anderen Seiten des Lebens, im vollen Bewusstsein, dass dieses Leben irgendwann zu Ende geht und ich dann womöglich todtraurig sein werde, da ich diese Welt nicht gerne verlassen will, mich aber zugleich freuen werde, dass ich in ihr leben durfte, was auch immer dann kommt.
Eine Form des Umgangs mit dem Tod, aber ebenso mit dem Leben, ist das Grab, ein Ort der Subjektivierung, Entsubjektivierung und Resubjektivierung, noch dazu der Intersubjektivität, des sozialen Lebens, denn hier am Grab begegne ich Anderen, in deren Erinnerung der Tote ebenfalls lebt: Kulturen wie die mexikanische machen am Allerseelentag ein Fest daraus. Das Grab wird zum Anlass für eine Neuorientierung d es Lebens , der sinnliche Eindruck des Ortes trägt dazu bei: Wofür und für wen lebe ich? Wie lebe ich mit den Menschen, die mir wichtig sind? Lebe ich so, wie es mir selbst schön und bejahenswert erscheint? Und wenn nicht, was könnte ich dafür tun? Es ist hilfreich für die Orientierung im Leben, sich in Gedanken immer wieder an seiner Grenze aufzuhalten.
Das Grab ist, wie schon das Sterben des geliebten Menschen, eine Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit, eine Begegnung mit dem eigenen künftigen Tod, der die Frage aufwirft, was von ihm aus gesehen das eigene Leben gewesen sein wird. Das Denken an den Tod und den Toten ist die Voraussetzung dafür, wieder Sinn im Leben zu finden und neuen Mut zu schöpfen, mit Freuden zurück ins Leben und hinaus in die Welt zu gehen. Gräber, in welcher Form auch immer, wird es so lange geben, wie es Menschen gibt, die an Tote denken und über Leben und Tod nachdenken wollen.
In seiner langen Geschichte hat das Grab in vielen Kulturen viele Formen angenommen, alle Friedhöfe und manche Museen erzählen davon ( Museum für Sepulchralkultur ,
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