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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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gesagt wird? Ja, wenn unter Himmel die Unendlichkeit der Möglichkeiten verstanden wird, ein unfassbarer Raum. Daher kann der, der zurückbleibt, sich hin- und hergerissen fühlen zwischen dem unendlichen Schmerz über den Verlust, der nicht mehr rückgängig zu machen ist, und der unendlichen Euphorie über das Sein, in dem das gemeinsame Leben geborgen ist: Novalis machte am Grab seiner jungen Geliebten Sophie von Kühn diese Erfahrung. Das Erschaudern vor der Wucht des metaphysischen Abschieds ist verständlich, aber zugleich ist die subjektive Gewissheit möglich, dass es ein Zusammensein über den Tod hinaus gibt, sodass es nicht mehr unsinnig erscheint, sich leichten Herzens für eine Weile Adieu zu sagen bis zur immerwährenden Vereinigung im Kontinuum der Energie.
    Inmitten der wirklichen Endlichkeit tut sich ein Fenster zurmöglichen Unendlichkeit auf, in der selbst dann, wenn der geliebte Andere »nicht mehr da ist«, eine Gemeinschaft mit ihm möglich erscheint, in welcher Form auch immer. »Bis dass der Tod euch scheidet«: Das war schon immer eine wunderliche Formulierung, zumal in christlichem Kontext, in dessen Rahmen doch angenommen wird, dass der Tod nichts scheidet, dass es vielmehr ein Leben über den Tod hinaus gibt. Die Wahrheit selbst ist unzugänglich, aber die Lebenswahrheit, die der Einzelne für sich gewinnt, ermöglicht die Annahme, dass die Lebenden und die Toten ein und dieselbe Welt bewohnen, wenngleich auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen: Ebene der Materie und ihrer jeweils begrenzten, endlichen Wirklichkeit, Ebene der Energie und ihrer unbegrenzten, unendlichen Möglichkeiten. Die reale Gestalt stirbt, nicht jedoch die Seele und der Geist, die im Grunde reine Energie, reine Potenz sind.
    Niemand kann definitiv wissen, in welchem Status ein Toter lebt, Annahmen sind jedoch möglich: Tot ist ein Mensch nur in Bezug auf dieses Leben, das er gelebt hat. Vergangen ist lediglich die einmalige Zusammensetzung der materiellen und immateriellen Bestandteile dieses Menschen, die Integrität, die ihn als Person charakterisierte. Dann gilt: Es gibt keinen wirklichen Tod außer dem Tod der Person. Die Person in dieser Komposition, die ihre begrenzte Zeit hat, löst sich auf, aber alle Bestandteile leben in anderen Zusammenhängen weiter, körperlich, seelisch, geistig. Nichts von dem, was durch diesen Menschen geprägt wurde, verschwindet jemals wieder, es sei denn auf lange Sicht der Name, der für die Prägung steht, und das Wissen Anderer, dass überhaupt eine Prägung stattgefunden hat.
    Jeder Mensch, der aus der energetischen Möglichkeitkommt und in sie zurückkehrt, hinterlässt eine Spur in der materiellen Wirklichkeit. »Warum habe ich überhaupt gelebt?« schreit eine 17-jährige verzweifelt in ihrer Todesstunde. Aber sie hat geatmet, also hat sie die Welt verändert, und was rein chemisch kaum zu bestreiten ist, verhält sich wohl auch seelisch und geistig so. Die Ich-Konstellation wird verwischt und ausgelöscht, aber einige Moleküle, Gefühle und Gedanken haben sich anders bewegt, als sie sich ansonsten bewegt hätten. Mag es sich auch nur um eine Winzigkeit handeln, aber etwas bleibt übrig, das unauslöschlich ist.
    Über den Tod hinaus kann im Gespräch mit dem Toten die Beziehung zu ihm weiterleben, vielleicht in ähnlicher Weise wie in dem Sketch für zwei Personen von Lauri Wylie aus den 1920er Jahren, Dinner For One . Das Stück wurde nach großen Erfolgen in England in vielen anderen Ländern seit den 1960er Jahren bekannt durch eine TV-Aufnahme mit dem Schauspieler Freddie Frinton als Butler James. Die 90-jährige Miss Sophie (May Warden) feiert darin, wie alle Jahre, anlässlich ihres Geburtstags die Anwesenheit ihrer lange schon verstorbenen Freunde Sir Toby, Admiral von Schneider, Mister Pommeroy und Mister Winterbottom, und sie treibt ihren Butler dazu an, dieses Setting ernst zu nehmen: »Just to please me!« Kann es wirklich solche Gespräche geben? Zumindest kann es die lebhafte Vorstellung geben, wie sie verlaufen würden, könnte es sie geben. Sollten sie tatsächlich stattfinden, fehlt es an Methoden, dies zu bewahrheiten; umgekehrt lässt sich die Möglichkeit solcher Gespräche nicht gänzlich ausschließen.
    In jedem Fall kann der Tote als imaginärer Gesprächspartner eine immense Bereicherung für das Leben sein: Mit dem Blick von außen, der ihm eigen ist, trägt er zur Orientierung der Lebenden bei, jedenfalls dann, wenn sie bereit sind, diesen

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