Dem Leben Sinn geben
Kassel, Sammlungsschwerpunkt deutschsprachiger Raum), und diese Geschichte wird fortgeschrieben. Gewöhnlich ist das Grab der Ort, an dem der Verstorbene im Erdreich vergraben wird oder seine Asche ihren Platz findet. Genauso gut kann es der ungefähre Ort sein, an dem der tote Körper oder die Asche bei einer Seebestattung oder auf einem indischen Fluss den Augen entschwindet, sowie der Ort der Aschenurne, die etwa als Schmuckvase auf der Fensterbank zuhause oder sonst wo steht. In fortgeschrittener moderner Zeit kann der Diamantring zum Grab werden, wenn der Kohlenstoff aus der Asche der »sterblichen Überreste« bei hohen Temperaturen und hohem Druck gepresst, sodann geschliffen wird: Den Ring zutragen, bringt eine intime Verbindung mit dem Toten zum Ausdruck.
Meist entspricht die Art des Grabes dem letzten Willen eines Menschen, mit welchem Element er nach seinem Tod verschmelzen will: Erde, Feuer, Wasser, Luft, in selteneren Fällen mit dem Kosmos, wenn die letzte Reise ins All bezahlbar ist, die keinen konkreten Ort des Gedenkens mehr hinterlässt. Aber auch virtuelle Gräber im Internet machen deutlich, dass es das Wesen des Grabes ist, zum Innehalten und Nachdenken, zur Meditation und zum Gebet anzuregen, um sich auf die Fragen von Leben und Tod einzulassen und dabei neue Kräfte zu sammeln.
Und noch etwas haben alle Gräber gemeinsam: Nicht wirklich ist der Tote hier. Ein Grund dafür könnte sein, dass nichts an ihm tot ist. Denn wohin sollte sein Leben entschwunden sein? Ins Nichts? Materiell gesehen, gehen die Atome und Moleküle in andere Atom- und Molekülverbände über, kein einziges Atom oder Molekül geht verloren. Der Körper hört in der gegebenen Form zu existieren auf, seine Bestandteile erleben jedoch eine Verwandlung in andere Formen. Die Annahme liegt nahe, dass sich dies mit Seele und Geist ganz ähnlich verhält. Wenn das Wesentliche eines Wesens die Energien sind, die es beleben, dann gilt: Energie stirbt nicht. Das besagt der Energieerhaltungssatz, den Hermann von Helmholtz 1847 für die Physik formulierte und der auch für die Energieformen gelten könnte, die dem Körper, der Seele und dem Geist eines Menschen zugrundeliegen, für die bekannten (elektrische Energie, Wärmeenergie, Bewegungsenergie) und für die unbekannten.
Die Energie des Lebens , die mit dem Tod entschwindet, ist dann weiterhin »da«, ohne genau lokalisierbar zu sein. Sie bleibt im Raum, unsichtbar und doch spürbar, kein Quantumgeht verloren. Vorstellbar ist jedoch, dass nun ein anderes Leben damit auflebt, andere Menschen, Wesen und Dinge davon durchpulst werden und der Tote auf diese Weise weiterlebt. Die Lebenden, die den Tod nicht fliehen, können die Energie wahrnehmen, aufnehmen und mit ihr ins Leben zurückkehren. Der neue Mut, der sie überkommt, verdankt sich womöglich der Energie, die der Tote nicht mehr für sich beansprucht, sondern dem überlässt, der in Beziehung zu ihm bleibt. Die Ummantelung, die dem Sterbenden gewährt worden ist, schenkt dieser in anderer Form nach seinem Tod den Lebenden. Es ist, als trage er mit seiner Präsenz, die sich vom Körper gelöst hat, ihre Ichs, geleite sie auf allen Wegen und halte schützend die Hand über sie. So lebt das Wesentliche eines Menschen vielleicht weiter in den Lebenden und trägt zu ihrem inneren Reichtum bei. Der Umgang mit dem Tod ist der Schlüssel zum Leben.
Dass es keinen wirklichen Tod gibt, dass da noch ein anderes Leben ist, auch wenn sich ein Mensch in dieser Gestalt auflöst, ist freilich nicht nachweisbar, nur annehmbar . Entscheidend dafür ist nicht die Wahrheit, die wohl nie zweifelsfrei ausfindig zu machen ist, sondern die Lebenswahrheit , mit der sich leben lässt. Sie hängt ab von der Deutung , die jeder selbst vornimmt und für die er, wenn er Beliebigkeit vermeiden will, nach der Plausibilität der Zusammenhänge fragt und im Übrigen danach, was ihm schön und bejahenswert erscheint. Auch die Wahrheit, auf die manche Individuen und ganze Kulturen sich kaprizieren, kann nur eine Deutung sein. Veränderungen der Deutung aber sorgen im Laufe der Zeit dafür, dass der Tod eine Geschichte hat, die von Menschen geschrieben wird (Philippe Ariès, Geschichte des Todes , 1978).
Den vormodernen Tod sandte ein Gott, sobald es ihm gefiel, den Menschen, dem er das Leben geschenkt hatte, wieder zusich »heimzurufen«. Dieser Tod konnte in den langen Zeiten der Geschichte, in denen es charakteristisch für das menschliche Leben war, nichts
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