Dem Leben Sinn geben
als harte, nackte Wirklichkeit vorzufinden und über wenige oder gar keine Möglichkeiten zu verfügen, als Erlösung empfunden werden. Ein besseres Leben folgte ihm in jedem Fall, sofern nicht Fegefeuer oder Hölle drohten: Eine große Unruhe empfanden vormoderne Menschen das ganze Leben hindurch bei der Frage, in welcher Weise Gott sie für all ihr Tun und Lassen am Ende noch zur Rechenschaft ziehen würde.
Der moderne Tod hingegen durchkreuzt eine hoffnungsvolle Wirklichkeit des Lebens mit einer Rücksichtslosigkeit, die viele Möglichkeiten zerstört und Projekte abbricht. Selten erscheint er als Erlösung, häufiger als Zumutung: Immer bleibt etwas ungelebt. Wo Menschen selbst Einfluss auf ihr Leben nehmen können und sich nicht mehr als Marionetten eines blinden Schicksals oder einer weisen Vorsehung verstehen müssen, kommt dem Tod die Rolle zu, Wünsche und Träume zunichtezumachen, sodass die Frage aufbricht: Warum? Schon zu Lebzeiten bedrängt der Tod die Lebenden mit den Fragen: Lebst du wirklich? Was hast du noch vor? Der moderne Glaube, dass das Leben mit dem Tod zu Ende sei, verstärkt bei vielen Menschen die Angst vor dem Tod, der für immer gestorben wird, sodass sie schon im Leben zu Tode betrübt sein können. Was einst der ritualisierte Übergang zu einer anderen Ebene der Existenz war, mit detailreichen Vorstellungen von einer jenseitigen Welt, kann für moderne Menschen nur noch ein Fallen ins Undenkbare und Unvorstellbare, ins Nichts sein. Dieser Tod hat kein Recht auf Leben, mit aller Macht muss er, solange er sich nicht abschaffen lässt, vor den eigenen Augen und den Augen Anderer verborgen werden. Dem Sterbendenwird »das Recht verweigert, zu erfahren, daß er stirbt, und bis in den Tod hinein von ihm verlangt, sich zu verhalten, als ginge es ums Überleben« (Ulla Berkéwicz, Überlebnis , 2008, 77).
In einer andersmodernen Kultur steht es dem Einzelnen frei, auch ohne Berufung auf einen Gott und ohne letzte Wahrheit nicht mehr das Ende des Lebens im Tod zu sehen (Bob Dylan, Death is not the end , Popsong, 1988). Dieser Deutung zufolge gehen Menschen, wie alle Wesen, aus einem allumfassenden Meer von Energie hervor, leben aus ihm heraus und kehren zu ihm zurück. Die Konturen von Menschen, des Menschen überhaupt, zeichnen sich für eine kleine Weile am Meeresufer der wirklichen Welt ab und werden wie das »Gesicht im Sand«, von dem Michel Foucault einmal sprach (Schlusssatz in: Die Ordnung der Dinge , 1966) von einem Wellenschlag wieder ausgelöscht. Was für einen Moment die Lebensenergie und Seele eines menschlichen Selbst war, geht wieder in die kosmische Energie und Weltseele über, die alles erfüllt und allem zugrunde liegt. Schon zu Lebzeiten spürt ein Mensch in seinem Innersten diese namenlose, grenzenlose eigentliche Seele , die Energie, die auch dann bleibt, wenn keine Person mehr da ist, während die persönliche Seele mit ihren charakteristischen Ausprägungen von Energien in Gefühlen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Sehnsüchten in dieser Form nur diesem Menschen eigen und an sein körperliches Dasein gebunden ist.
Aus der Binnensicht des Todes fühlt sich die äußerste Erfahrung daher womöglich ganz anders an als von außen. Sie könnte der Erfahrung ähneln, nach der die Liebenden sich sehnen und die sie in manchen Augenblicken auch erlangen: Wie die Liebe könnte der Tod eine Rückkehr zum energetischen Zustand sein, um auf dieser Ebene miteinander und mit allem zu verschmelzen, nur noch Energie zu sein, reineMöglichkeit, denn Energie ist Möglichkeit – je mehr Energie, desto mehr Möglichkeiten.
Was in einzelnen Momenten beim Einswerden mit einem Anderen erfahrbar ist, wird zur unio mystica mit dieser anderen Dimension: Der »kleine Tod« der Liebesekstase könnte eine Vorahnung des großen Aktes sein, der der Tod selbst ist, der gewaltigste Moment des Lebens mit einem Hinausströmen des Selbst aus sich, einer rauschhaften Auflösung, einer Zerlegung des Lebens in dieser Gestalt. Diese ultimative Ekstase hat nicht mehr nur ein »Hinausstehen« ( ekstasis im Griechischen), sondern ein völliges Hinausgehen aus sich und diesem Leben zur Folge. »Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen« (Rilke, Duineser Elegien , Die erste Elegie).
Dass die Abwesenheit des geliebten Anderen nach seinem Tod so unwirklich erscheint, wäre dann erklärbar: Er lebt nicht mehr in dieser Wirklichkeit, sehr wohl jedoch in einer anderen. Etwa »im Himmel«, wie den Kindern
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