Dem Leben Sinn geben
indifferent gegen Differenzen, die in den Begegnungen und Entfernungen zwischen Menschen eine Rolle spielten. Gleichgültig geht er darüber hinweg und wartet keine Klärung ab, auf die ja wohl auch noch lange zu warten wäre. Ganz so, wie aus der Sicht des Lebens der Tod eine ungeheuerliche Ausnahmeerscheinung darstellt, kann aus der Sicht des Todes das Leben als sonderbare Nichtigkeit in der Weite und Kälte des Alls erscheinen, das Leben der Betroffenen wie auch das aller Anderen, das menschliche Leben, das Leben überhaupt in den unbelebten, unendlichen Weiten des Kosmos.
Die Liebe bis in den Tod ist die Liebe dessen, der bleibt, zu dem, der jetzt schon geht, und ebenso die Liebe dessen, der stirbt, zu dem geliebten Menschen, der noch für unbestimmte Zeit bleibt. Der Tod begrenzt das Leben und, weit schmerzlicher noch, das Leben mit dem geliebten Anderen, das sich nur innerhalb dieser Grenzen feiern lässt. Solange der Tod fern zu sein scheint, lassen die Liebenden es an der Feier der Gemeinsamkeit zuweilen fehlen. Wenn er aber näher rückt, wächst das Bewusstsein dafür, wie wertvoll die gemeinsame Zeit doch ist. Eines Tages vom geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen, zumindest für dieses Leben und wohl in jedem Fall als Person, die an diese Verkörperung gebunden ist, schmerzt bereits als Vorstellung zutiefst, umso mehr als reale Erfahrung. Der Tod macht die Liebe fühlbarer, die Liebe wiederum den Tod: Wer liebt, vervielfacht nicht nur das Leben, sondern auch den Tod. Dass Liebe und Tod auf diese Weise untrennbar miteinander verknüpft sind, ist einer der Gründe dafür, dass sie in der Kunstgeschichte so oft gemeinsam Darstellung finden.
Abschied nehmen müssen aber irgendwann nicht nur die Liebenden im engeren Sinne voneinander, sondern auch Freunde, Bekannte, Kollegen, im schlimmeren Fall Kinder von ihren Eltern und im schlimmsten Fall Eltern von ihren Kindern. Nicht immer ist ein Abschied zu Lebzeiten möglich: Bricht der Tod plötzlich herein, bleibt nur noch der Abschied vom Toten. Die Art des Abschieds aber hat immer etwas mit der Auffassung zu tun, was Tod ist und was danach kommt. Der Tod ist unabweisbar und zugleich so abstrakt, dass es schwerfällt, sich vorzustellen, was da geschieht, wenn ein Mensch geht. In heilloser Verlorenheit angesichts des Todes suchen Menschen ihr Heil darin, Vorstellungen des Todes von irgendwoher zu übernehmen. Dass es unmöglich ist, jemals wissen zu können, wie es sich wirklich mit ihm verhält, hat immer schon bunte Theorien über ihn hervorgetrieben (Petra Gehring, Theorien des Todes zur Einführung , 2010).
So ist er nicht einfach nur eine Tatsache, sondern auch eine Deutung , die einzelne Individuen und ganze Kulturen vornehmen und selten als Deutung, meist als Wahrheit verstanden wird: Erscheint der Tod relativ , kann der Abschied einer auf Zeit sein, wie dies in vormodernen Kulturen möglich ist. Erscheint der Tod absolut , gilt dies auch für den Abschied: Er ist endgültig, »für immer«, es wird kein anderes Leben, kein Zusammensein in irgendwelcher Form mehr geben.
Alles Unwirkliche wird wirklich, alles Unlebbare lebbar durch Formen, das gilt auch für die Formen des Umgangs mit dem Tod . Sie resultieren aus seiner völligen Unerklärbarkeit, aus dem grenzenlosen Schmerz über die Trennung, die sich mit ihm vollzieht. Den Lebenden geben sie Halt in einer haltlosen Zeit. Die überbordenden Gefühle der Lebenden begraben sie nicht unter sich, sondern verleihen ihnen Ausdruck. Jede v ormoderne Kultur kennt solche Formen, die den Tod mit Verhaltensweisen und Ritualen umgeben und dem Toten rituellen Respekt erweisen.
Ein Eindruck davon ist auch im 21. Jahrhundert noch in Georgien zu gewinnen, wo der Tote fünf Tage lang im Kreise der Familie ruht, die sich allmählich daran gewöhnt, dass er nicht mehr da ist, während er noch da ist. Niemand zweifelt daran, dass ein Mensch nach dem Tod auf andere Weise weiterlebt, und so muss er sich nicht aus dem Haus geworfen fühlen. Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, Nachbarn geben ihm letzte Worte mit auf den Weg, pflegen die Beziehung zu ihm, sprechen über ihn in seinem Beisein, und man soll auch weinen. Vor dem Begräbnis windet sich eine Menschenschlange von der Straße bis zur Wohnung hoch, in der das Wohnzimmer mit schwarzen Tüchern verhängt ist, in der Mitte der Sarg, in dem mit grauenhafter Leichenfarbe, grüngelbblaugrau, der Tote liegt. Entlang der Wände sitzen schwarz gekleidete Frauen,
Weitere Kostenlose Bücher