Dem Leben Sinn geben
mit oder ohne Verfügung des Betroffenen, mit oder ohne sein Wissen, mit oder ohne Absicht.
Eine Liebe bis in den Tod, die dem Leben bis zuletzt Sinn geben kann, ist jedoch vor allem der Beistand für einen Menschen in der letzten Phase seines Lebens, der den Wunsch nach Sterbehilfe in den allermeisten Fällen überflüssig macht. Zentrales Element ist dabei die Ummantelung , die der palliativen Behandlung (lateinisch pallium für Mantel) den Namen gegeben hat. Sie zielt anders als eine kurative Behandlung nicht länger auf Heilung und umfasst nicht mehr sämtliche Maßnahmen zur Lebenserhaltung und Lebensverlängerung.
Palliativ geht es darum, das technische Arsenal der Medizin in den Hintergrund treten zu lassen und den Sterbendenmenschlich zu umsorgen, Schmerzen zu lindern und den äußeren Rahmen, die Ausstattung der Räume, den Rhythmus der Zeiten so zu gestalten, dass ihm ein Wohnen in Gewohnheit und Vertrautheit bis zuletzt möglich wird. Die Liebe bis in den Tod ist hier die Menschen- und Nächstenliebe in Hospizen , die seit den 1960er Jahren, initiiert von Cicely Saunders und ausgehend vom St. Christopher’s Hospice in London, vielfach gegründet wurden und um die auch Krankenhäuser mit Palliativstationen sich bemühen. Von Liebe bis in den Tod getragen ist ebenso der Beistand zuhause , die Ummantelung durch vertraute Menschen, die bis zuletzt beim Sterbenden bleiben und dabei Sterben und Tod aus nächster Nähe miterleben, eine unvergessliche Erfahrung. Das Dabeibleiben, vielleicht ambulant unterstützt von Pflegern und Hospizmitarbeitern, ermöglicht ein Sterben unter Bedingungen, die viele Sterbende sich wünschen (Gian Domenico Borasio, Über das Sterben , 2011; Film Halt auf freier Strecke , Regie Andreas Dresen, Deutschland 2011).
Bis zum Ende des Lebens kann Glück eine Rolle spielen: Niemand kann darüber bestimmen, wie das schicksalhafte oder zufällige Glück oder Unglück am Ende ausfällt. Einiges bleibt jedoch für das Wohlfühlglück zu tun, wenn ein Mensch weiß, was ihm gut tut, während gegen das, was ihm weh tut, Schmerzmittel eingesetzt werden können. Das Glück der Fülle stellt sich am ehesten dann ein, wenn das eigene Leben bei all seiner Gegensätzlichkeit zumindest im Rückblick bejaht werden kann. Aber niemand sollte gegen seinen Willen dem Stress ausgesetzt werden, sich jetzt um jeden Preis noch glücklich fühlen zu müssen. Gerade die letzte Zeit kann auch vom Unglücklichsein geprägt sein, etwa darüber, dieses Leben und die Liebsten endgültig verlassen zu müssen.
Wichtiger als das Glück kann in der letzten Phase des Lebens der Sinn sein, vorweg der Sinn der Sinnlichkeit: Wenn nicht mehr viel zu sagen ist, bleibt noch die Berührung, denn der Tastsinn, der im Mutterleib als erster Sinn entsteht, ist bis zuletzt ansprechbar. Sinn vermitteln die gefühlten Beziehungen zu Anderen jetzt mehr als je zuvor, aber über die Nähe und Distanz zu ihnen bestimmt der Sterbende selbst. Jetzt wächst auch das Bedürfnis, nachzudenken über das Leben und den möglichen Sinn des Lebens, des eigenen und des Lebens überhaupt, sowie über den möglichen Sinn darüber hinaus.
Es kann eine erfüllte, aber auch eine quälend lange Zeit sein, diese ontologische Zwischenzeit mit einem unentschiedenen Hin und Her zwischen der bestimmten Wirklichkeit , zu der dieses Leben in seiner Gesamtheit jetzt wird, und der unbestimmten Möglichkeit des Todes, von dem unklar ist, wann und wie er eintreffen wird. Das Leben hängt in der Luft, nicht nur das Leben des Sterbenden, sondern auch derer, die bei ihm sind und in dieser Zeit den Boden unter den Füßen verlieren können.
Zu einem größeren Problem als je zuvor wird der ontologische Übergang , vergleichbar dem Prozess, bei dem Sandkörner durch die winzige Öffnung in einer Sanduhr rieseln: Gleich einem Sandkorn realisiert ein Mensch nun seine letzte Möglichkeit, sein Leben wird zur abgelebten Wirklichkeit, um daraufhin wie bei einer abgelaufenen Sanduhr, die umgedreht wird, wieder dem Reich der Möglichkeiten zuzugehören und vielleicht von vorne zu beginnen.
Das leichte Erzittern im ontologischen Gefüge, das der Übergang zu verursachen scheint, nehmen Nahestehende als schwere Erschütterung wahr: Bis auf den Grund wühlt der näher kommende Tod auch ihr Leben auf. Nivelliert wird alles, was bisher im Leben wichtig war, fragwürdig alles, wasselbstverständlich war, bedeutungslos alles, was bedeutsam erschien. Der Tod verhält sich
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