Dem Leben Sinn geben
jeder Besucher umkreist den Toten einmal, verneigt sich vor ihm, flüstert ihm letzte Worte zu und kondoliert den Angehörigen. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, zahllose Menschen muten sich die ungeheure Irritation zu, die die Begegnung mit dem Tod ist. »Augen, von denen niemand weiß, was sie noch sehen, werden zugedrückt, man hält dem Blick nicht stand, entsetzt sich, die Ewigkeit schaut einen an« (Ulla Berkéwicz, Überlebnis , 2008, 107).
Mit zunehmender Formlosigkeit in moderner Zeit machen Menschen die Erfahrung, dass damit Haltlosigkeit und Ratlosigkeit, Verlorenheit und Verzweiflung angesichts des Todes um sich greifen. Nicht etwa zufällig sind Formen des Umgangs mit dem Tod verloren gegangen, vielmehr führte der moderne Anspruch, Freiheit zu realisieren, auch hier zur Befreiung vonVorgaben der Religion, Tradition und Konvention, die dem Verdacht ausgesetzt waren, das Individuum gefangen zu halten, zu knechten, zu normieren und in seiner freien Entfaltung zu behindern.
In einer andersmodernen Zeit ist die freie Übernahme alter Formen des Umgangs mit dem Tod möglich, ebenso die Erfindung neuer, individueller Formen , zu denen beispielsweise das »Haus der menschlichen Begleitung« ermuntert, 1993 in Bergisch Gladbach gegründet. Das ist kein bloßes Bestattungshaus mehr, eher ein großes Wohnhaus, das die Räume bereithält, in denen der Tod gelebt werden kann, und die Zeit vorhält, die er braucht und die individuell sehr unterschiedlich ausfallen kann. Zum Haus gehören Werkstätten, um den Sarg selbst zimmern und verzieren zu können. Eine Totenmaske kann angefertigt werden, und Kinder können Bilder malen, während der Tote im Raum liegt, den die Familie zu ihrem eigenen macht. Kabarett wird im Haus gespielt, Schulklassen kommen zu Besuch, Popbands geben Open-Air-Konzerte auf dem Rasen hinterm Haus, unter dem so mancher begraben liegt, der sich dies wünschte. Am höchsten Punkt der Gärten der Bestattung bietet ein »Haus der Klage« dem, der nicht still meditieren will, andere Möglichkeiten, seine bewegenden Gefühle zu äußern.
In einem Saal findet jetzt eine Trauerfeier für eine 50-jährige Frau statt, deren Lieblingsdinge die Angehörigen um den Sarg herum drapiert haben: Eine Schallplatte von Jacques Brel, die ihr wichtig war, eine Blechdose voller Kalenderblätter, die sie aufbewahrte, da sie »keinen Tag wegwerfen« wollte. Am Ende der Trauerfeier wird Fritz Roth, der »begeisterte Bestatter«, wie er sich zeitlebens nannte, den Sarg noch einmal öffnen für alle, die ein letztes Mal Abschied nehmen wollen. Das Mysteriumdes unbeseelten Körpers wird dabei sinnlich erfahrbar – eine Erfahrung, die keiner, der sie macht, jemals wieder vergisst. Plötzlich wird klar, dass das Wesentliche des Lebens, das den Körper durchdringt, mit dem Tod entschwunden ist. Aber wohin? Was ist mit dem Menschen, der »gegangen ist«? Welche Beziehung zu ihm ist noch möglich?
Liebe über den Tod hinaus:
Von einem möglichen Leben nach dem Tod
Ich stehe am Grab meines Vaters, Wind weht mir ins Gesicht, eine Amsel singt, ein Hahn kräht irgendwo, eine Lerche steigt tirilierend hoch. Hier kann ich die Jahreszeiten riechen, den Fliederduft im Frühling, das Korn im Sommer, die umgepflügte Erde im Herbst, die eisige Luft der nahen Berge im Winter. In der schwarzen Erde des Grabes verströmen »Gedanken« ihren melancholischen Duft, Stiefmütterchen, pensées im Französischen. Gedanken gehen mir durch den Kopf, Erinnerungen an meinen Vater, seinen ruhigen Ernst, sein frohes Lachen bis in den Tod. Er starb in der tröstenden Gewissheit, für immer seine Heimat in diesem kleinen Tal zu haben, das er über alles liebte, eingebettet in die Natur, der er sich zugehörig fühlte, umgeben von den Geräuschen des Alltags, nicht nur der Vögel, sondern auch des Verkehrs, der am Friedhof vorbeirollt. An diesen Ort kehre ich stets zurück, um meinem Vater zu begegnen, mit ihm zu sprechen, aufmerksam zu sein auf jeden Wink von ihm. Aber ist er wirklich hier? Mag sein, dass nur Knochen in diesem Grab liegen, sein Geist jedoch, seine Gedanken können nicht tot sein, denn ich denke sie weiter, wo auch immer ich bin.
Meine neunjährige Tochter ist bei mir. Als wir weggehen, beginnt sie leise in sich hineinzuweinen. Ich fühle mit ihr, sie vermisst ihren Opa sicherlich sehr, aber sie sieht mich an: »Weil du einmal nicht mehr da sein wirst!« »Ja«, sage ich verblüfft, »so wird es sein.« Dabei kann ich mir
Weitere Kostenlose Bücher