Dem Leben Sinn geben
fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Die Deutungen und ihre Veränderungen durch die Zeiten und Kulturen hindurch sorgen dafür, dass auch Gott eineGeschichte hat, die geschrieben werden kann, wenngleich sie nicht auf sein Leben in einer einzigen heiligen Schrift beschränkt werden sollte (Jack Miles, Gott. Eine Biographie , 1996). Seine Wandelbarkeit ist erstaunlich, signifikant ist in der hinduistischen Kultur seine opulente Vielheit , in der jüdischen sein Zorn , in der christlichen seine Güte , in der islamischen seine Schönheit . Es ist müßig zu fragen, welches Gottesbild das richtige ist, eher wäre zu fragen, wie sich die unbegrenzten Ansprüche seines Begriffs, der von Menschen gemacht wird, mit der Begrenztheit menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung vertragen: Soll Gott für Allmächtigkeit stehen, kann er nichts mit einer begrenzten menschlichen Macht zu tun haben. Soll ihn Allgegenwärtigkeit auszeichnen, entzieht er sich jeder begrenzten Gegenwart. Als Schöpfer konkurriert er zwangsläufig mit Kosmologie und Evolution.
Möglich wäre jedoch auch eine Deutung, die bei der Beobachtung ansetzt, dass in heiligen Texten auffällig häufig energetische Bilder etwa von einer Flamme und energetische Begriffe etwa von einer unendlichen Kraft verwendet werden, um das Göttliche oder Gott zu charakterisieren. Das legt die Deutung nahe: Gott ist Energie , reine Potenz, unendliche Möglichkeit, aus der heraus alle Wirklichkeit erst entsteht. Energie ist das Eine, das allem zugrundeliegt, dasjenige, was alles erfüllt und in jeder Beharrung, Bewegung, Veränderung und Entwicklung wirksam ist. Auf dieser Basis schwindet die angebliche Unvereinbarkeit von Physik und Metaphysik.
Eine Aussage wie »Gott ist Liebe« (1. Johannesbrief , 4, 16) kann dann als ein anthropomorpher Ausdruck für Energie gelten, denn für Menschen ist Liebe das Phänomen, das Energie in besonderem Maße erfahrbar macht. Für die Gesamtheit der Energie kann zutreffen, was von Gott behauptet wird:Dass bei ihm möglich ist, was bei Menschen unmöglich ist ( Lukas-Evangelium , 18, 27). So manche theologische Diskussion ist im Lichte dieser Deutung besser zu verstehen, etwa die Diskussion über die »Emanation«, das Hervorgehen oder Herausfließen ( emanere im Lateinischen) der endlichen und wirklichen Dinge und Wesen, der Welt und des Menschen aus einem göttlichen Ursprung, der hierfür einer Omnipotenz bedarf, wie sie nur dem Gesamtpotenzial der Energie zuzutrauen ist.
Dieser Deutung zufolge liegen unendliche Möglichkeiten aller Wirklichkeit zugrunde, die sich wiederum in Möglichkeiten auflöst. Die verschiedensten Kulturen haben das Reich der Möglichkeiten bildhaft als phantastisches Paradies ausgemalt, in dem Schmerz und Leid unbekannt sind, die es tatsächlich nur in einer Wirklichkeit geben kann. Die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies lässt sich als Bild für das Aufbrechen der ontologischen Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit deuten. Fraglich ist nur, was daran »Schuld« des Menschen sein soll, dem es nie freistand, die ewige Welt der Möglichkeiten zu verlassen und in der Zeit wirklich zu werden, kein Mensch hatte je diese Wahl. Gott hingegen wird vorstellbar als Inbegriff der Unendlichkeit und Möglichkeit eines Seins jenseits aller Zeit, auch diesseits der Zeit präsent in allem, was war, ist und sein wird. Als Vergangenheit erscheint die Anhäufung der abgelebten Möglichkeiten, als Gegenwart die sehr begrenzte Zahl der jetzt gelebten Möglichkeiten, als Zukunft die Unzahl derer, die noch zu leben bleiben. Das überzeitliche Sein kommt im momentan Seienden zum Vorschein, auch im Dasein eines Menschen mit allen Facetten (dafür steht die Geschichte der Menschwerdung Gottes). Das Sein entfaltet sich auf diese Weise in der Zeit, denn nur zeitlich kann das Mögliche wirklich werden. Die Rede von »Sein und Zeit«, Heideggers Rede, erweist sich so gesehen als Versuch, auf weltliche Weise von Gott zu reden, ohne von ihm zu reden.
Die Lebenskunst im Umgang mit Anderen und der Welt umfasst auch den Umgang mit diesem ganz Anderen, aber auf der Basis einer Deutung , die keine Frage der objektiven Wahrheit ist, sondern eine der subjektiven Lebenswahrheit, für die außer individuellen und kulturellen Vorlieben Überlegungen zur Plausibilität sprechen können: Müsste es nicht, der Polarität aller
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