Dem Leben Sinn geben
Phänomene entsprechend, zum Pol der Endlichkeit und Wirklichkeit einen Gegenpol der Unendlichkeit und Möglichkeit geben? Woraus sollte alle Endlichkeit und Wirklichkeit hervorgehen, wenn nicht aus einer Unendlichkeit und Möglichkeit, in der die gegenwärtige Endlichkeit und Wirklichkeit als ein Punkt enthalten ist?
Nur der Einzelne selbst kann entscheiden, was ihm plausibel erscheint und ob er einer möglichen anderen Dimension Bedeutung für sich und sein Leben zuerkennt. Wenn es ihm aber plausibel erscheint, einen allumfassenden Zusammenhang zwischen Wirklichem und Möglichem, Endlichem und Unendlichem, Einzelnem und All anzunehmen, kann damit der umfassendste Sinn begründet werden. Und sollte er daran interessiert sein, dass Andere seine Sichtweise respektieren, dürfte er keiner anderen Sichtweise ihr Recht absprechen: Goldene Regel aller Religiosität und Areligiosität. So wäre die verbreitete Transzendenz-Ignoranz aufzufangen, die eine zweifache ist, jeweils an einen bestimmten Glauben gebunden: Die Einen glauben, dass es Transzendenz gibt, von der sie meist sehr genaue Vorstellungen haben, alles Andere ignorieren sie. Die Anderen glauben, dass da nichts ist und sind sich dessen sehr sicher, alles Andere ignorieren auch sie. Über ein Wissenverfügen beide Seiten nicht – und auch sonst niemand. Eine Entscheidung hat dennoch jeder Einzelne für sich zu treffen.
Die Entscheidung für oder gegen die Annahme einer Transzendenz ist eine intime Frage des jeweiligen Ich, die das Eigentliche seiner Existenz berührt, intimer noch als andere Fragen: Kann ich mich mit der gegebenen Endlichkeit bescheiden, von der ich glaube, dass sie nicht zu überschreiten ist, oder will ich mich in eine mögliche Unendlichkeit eingebettet glauben, in der auch ein anderes Leben möglich ist? Wenn Letzteres, nehme ich dieses Mögliche in mein Innerstes auf, gebe meinem Glauben also einen Platz in meinem Kern, »im Herzen«, nicht nur in der Peripherie meiner selbst.
Nach außen hin muss nicht definiert werden, welcher Art die Beziehung zu diesem Möglichen ist. Sie kennt ein »unter uns«, wie jede Beziehung, in der Vertraulichkeiten miteinander geteilt werden, die Andere nichts angehen. Wer im Denken und Fühlen diesem Möglichen Wahrheit zuerkennt, muss dies weder sich noch Anderen ständig versichern. Bei ihm selbst brechen ja immer wieder Zweifel auf, er fühlt sich hin- und hergerissen zwischen äußerster Gewissheit und der Unmöglichkeit einer letzten Gewissheit. Das hat er mit denen gemein, die daran glauben, dass an der Stelle des ganz Anderen nichts sei. Auch das könnte ein Grund für die Heftigkeit und Unversöhnlichkeit der Diskussionen zu diesem Thema sein: Es sind Auseinandersetzungen des jeweiligen Menschen mit sich selbst.
Wichtiger als die Wahrheit, die leicht bestritten werden kann, ist ohnehin die Schönheit , die nicht begründungspflichtig ist. Was ist in meinen Augen schön? Diesem Bejahenswerten kann ich den Wert abgewinnen, an dem ich meine Haltung orientieren kann. Ich bedarf dafür keines besonderen Bekenntnisses, nur einer individuellen Sichtweise, von der niemand sonst überzeugt werden muss. Nicht zwingend ist die Schönheit auf der Seite Gottes zu finden, auch seine Negation kann schön sein, je nach subjektiver Überzeugung. Sollte es jedoch Gott sein, der als schön erscheint, die Schönheit göttlich, dann deswegen, weil diese andere Dimension bejaht wird, ja, als das Bejahenswerte schlechthin gilt, immer angeleitet von der Frage: Wo ist die größte Intensität? Dort ist Gott. Aber auch das ist eine Deutung.
Für die Lebensführung kann es einen beträchtlichen Unterschied machen, ob eine Beziehung zu diesem absolut Schönen eingegangen werden kann: Wenn ja, steht womöglich mehr Energie für die Lebensbewältigung zur Verfügung, und eine größere Gelassenheit ist möglich, da vieles dieser anderen Dimension überantwortet werden kann und nicht alles in einem einzigen Leben realisiert werden muss. Sich in Gedanken und Gefühlen auf etwas oder jemanden zu beziehen, das oder der einen nie verlässt, mag das Selbst auch noch so sehr von aller Welt verlassen sein, lässt alle Bedrückung, Widrigkeit und Ungerechtigkeit nichtig erscheinen; ein ähnlicher Effekt wie bei der Einbettung in bejahenswerte Beziehungen zu anderen Menschen. Aller Ärger kann an diesem Menschen abprallen: »Ärgre dich, o Seele, nicht« ( Bach-Kantate 186); eine stoische »innere Burg« entsteht auf diese Weise. Da die
Weitere Kostenlose Bücher