Dem Leben Sinn geben
Leben hinaus möglich ist und dass etwas oder jemand in diesem Darüberhinaus dem Ganzen einen Sinn gibt. Auf einer Entscheidung beruht auch die Liebe über das eigene Selbst hinaus zu anderen Menschen, zum Leben, zur Welt überhaupt und zu etwas Größerem jenseits aller Endlichkeit und Wirklichkeit: Jede dieser Lieben hält so viel Intensität bereit, dass sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr stellt. Und mit seiner Hoffnung vertraut ein Mensch darauf, dass es sinnvolle Zusammenhänge gibt und dass etwas, das aus dem Lot geraten ist, wieder gut wird, wenngleich nicht schon jetzt. Ist Leben nicht immer die Hoffnung darauf, dass in einer anderen Zeit noch etwas Anderes wirklich werden wird? »Leben ist Hoffnung« ( Life is a hope , Oscar Wilde, Eine Frau ohne Bedeutung , 1894, Erster Akt). Hoffnung ist immer möglich, beispielsweise die Hoffnung darauf, dass Liebe sich einstellt oder dableibt oder wiederkommt. Die Hoffnung gefährdet die bestehende Wirklichkeit nicht, sie begnügt sich mit der Aussicht auf eine künftige Wirklichkeit und brennt nicht lichterloh für deren Verwirklichung. Der Blick auf andere, bessere Zeiten, Beziehungen und Möglichkeiten hält den ontologischen Horizont offen, ohne einen konkreten Zeithorizont damit zu verbinden.
Anders verhält es sich mit der Sehnsucht , die das Spektrum der transzendenten Fähigkeiten erweitert: Dieser unduldsame Impuls ist, anders als die geduldige Hoffnung, nicht willentlichverfügbar: Niemand kann entscheiden, Sehnsucht zu haben, jeder kann ihr jedoch Raum geben, sobald sie sich einstellt. Je unverrückbarer eine Wirklichkeit erscheint, desto heftiger befällt dieses Heimweh nach dem Möglichen einen Menschen und gefährdet das Wirkliche, denn die Sehnsucht bescheidet sich nicht mit dem, was ist: Wer etwa von Sehnsucht nach Liebe umgetrieben wird, kommt nicht mehr zur Ruhe. Und sogar die Melancholie , die auf die Erfüllung wie auf die Unerfüllbarkeit einer Sehnsucht folgt, ist eine transzendente Fähigkeit, denn sie bewahrt die Sensibilität für das Mögliche, das schmerzlich abwesend erscheint. Sollten sich aber nirgendwo zwischen endlichem Dasein und unendlicher Seinsfülle sinnvolle Zusammenhänge zeigen, kann gerade das Eingeständnis der Sinnlosigkeit tröstlich sein: Es entlastet davon, unbedingt Sinn finden zu müssen. Transzendente Fähigkeiten sind außerdem Schlaf und Traum , die nicht einfach herbeizuführen, aber bewusst wertzuschätzen sind: Heilsam überkommen sie den Menschen und lassen ihn neue Kraft schöpfen. Der Sinn des Traumes liegt dabei weniger in der konkreten Bedeutung, die ihm zugesprochen wird, mehr in den denkbaren und undenkbaren Zusammenhängen, die er durchspielt und von denen einige so faszinierend sind, dass ein Mensch ihnen fortan gerne folgt, andere so erschreckend, dass er ihnen unbedingt zu entkommen sucht.
Den transzendenten Fähigkeiten kann mit Rauschmitteln aller Art nachgeholfen werden, die freilich trügerischen Trost vermitteln: Je mehr sie eine schmerzliche Wirklichkeit vergessen machen, desto schmerzlicher ist die Konfrontation mit ihr, sobald der Rausch nachlässt. Die transzendente Fähigkeit der Phantasie kommt ohne Rauschmittel aus: Sie bedarf nur einer Anstrengung der Vorstellungskraft und einer Arbeit ander Herstellung des Vorgestellten, wenn daraus Wirklichkeit werden soll. Mehr als je zuvor hat in moderner Zeit die Phantasie zu bewerkstelligen, was in anderen Kulturen Aufgabe der Religion war und ist: Über die bestehende Welt hinaus eine transzendente zu erschließen. Und trösten kann schließlich jede Begeisterung für etwas oder jemanden, jeder enthousiasmos , den Platon in seinem Dialog Phaidros bereits als transzendente Fähigkeit rühmte; ebenso die Bereitschaft, sich anstecken zu lassen von der Begeisterung Anderer. Es kann sich um die Begeisterung für eine individuelle oder gesellschaftliche Utopie handeln, mit der Menschen sich über eine betrübliche Gegenwart hinwegtrösten, indem sie eine andere, mögliche Welt ins Auge fassen, die gegenwärtig noch keinen konkreten Ort hat. Trostlos ist lediglich die »Atopie«, da sie keinen Ort, nirgends, niemals für etwas Anderes bereithält.
Transzendenten Trost vermitteln sogar Rituale , wie Menschen sie zu allen Zeiten und in allen Kulturen erfunden haben. Sie bieten Formen an und schreiben mit festgefügten Abläufen vor, wie ein Mensch sich zu verhalten hat und seine Gefühle zum Ausdruck bringen soll, und gerade dann, wenn er weiß, was zu
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