Dem Leben Sinn geben
Zusammenhalt bilden, der sich nicht nur momentan, sondern über ganze Zeitspannen hinweg und vielleicht das ganze Leben hindurch bewährt. Er wird von gemeinsamen Erfahrungen, Interessen und Werten befördert und kommt in wechselseitiger Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Unterstützung zur Geltung. Kinder erleben diesen Zusammenhalt in einer Familie oder Gruppe, in der sie bestärkt werden, aber auch außerhalb, wo sie aus eigenem Antrieb nach vertrauenswürdigen Anderen suchen, wenn sie innerhalb nicht zu finden sind. Bei einer Kunstausübung, beim Sport und anderen Unternehmungen und Herausforderungen können sie Anderen begegnen, Freunde finden, ihr Sozialleben selbst organisieren und daraus den Sinn gewinnen, der ihr Leben bejahenswerter macht. Steht kein wirklicher Freund zur Verfügung, dann vielleicht ein vorgestellter. Kraft resultiert auch aus der Hoffnung, im späteren Leben die Liebe zu finden, an der es jetzt fehlt, und am ehesten wird das möglich sein, wenn sie niemandem abverlangt wird. Und schließlich birgt der gefühlte Zusammenhang mit der Natur sehr viel Sinn in sich: Von klein auf finden Menschen Trost in der Erfahrung von Natur, häufig beim Umgang mit Tieren, denen sie vertrauen und sich anvertrauen können, um daraus Kraft zu schöpfen.
Darüber hinaus hängt die Resilienz von Gedanken ab, die Kraft geben, von Deutungen, mit denen einer objektiven Gegebenheit ein subjektiver, geistiger Sinn abzugewinnen oder gegen die Fakten geltend zu machen ist. Das kann eine bestimmte Sichtweise sein (»ich sehe das so«), eine Neugierde auf alles, was den eigenen Horizont sprengt (»mal sehen, was es sonst noch gibt«), eine Auffassung, dass im Leben alles voller Zusammenhang ist (»alles hat einen Sinn«), eine Phantasie (»vielleicht ist alles ganz anders«), ein provisorischer Sinn, dermisslichen Verhältnissen zugeschrieben wird (»für irgendetwas wird es gut sein«). Die Resilienz wird in Gedanken gestärkt durch selbst gesetzte Ziele und Zwecke: Für etwas und für Andere da zu sein, eine Aufgabe wahrzunehmen, eine Verpflichtung einzugehen, eine Verantwortung zu übernehmen. Sogar von der geistigen Fähigkeit zur Dissoziation kann Gebrauch gemacht werden, die gewöhnlich für pathologisch gehalten wird: Das jetzige Ich von einem früheren, das innere Ich von einem äußeren abzuspalten, überhaupt jede Art von »Selbstrelativierung« und »Selbstdistanz« hilft dabei, sich von einer allzu belastenden Geschichte und Umgebung abzusetzen (Ulrich Sachsse, »Sinngebung bei schweren Persönlichkeitsstörungen«, Handbuch der Borderline-Störungen , 2011).
Im Übrigen müssen nicht alle Probleme bewusst bewältigt werden, vieles kann dem Unbewussten und dem Schlaf überlassen bleiben, denn der menschliche Geist arbeitet auch, wenn er scheinbar ruht. Vieles lässt sich »verträumen«, in Träumen verarbeiten, die die beunruhigenden Erfahrungen und belastenden Gefühle so lange durchspielen, bis mit neuen Verknüpfungen neuer Sinn entsteht, eingekleidet in Bilder und Geschichten, ohne dass das bewusste Selbst daran mitgewirkt hätte.
Von Vorteil ist, wenn in Gedanken die Gegensätze, Widersprüche und Widrigkeiten des Lebens als Elemente eines Glücks der Fülle betrachtet werden können. Das wird erleichtert von der Auffassung, dass schwierige Situationen zum Leben gehören und dass es möglich ist, sich in ihnen zu behaupten. Es wird erschwert vom Versuch, dem Leben einen Sinn zu geben, den es nicht erfüllen kann, beispielsweise immer nur positive Erfahrungen bereitzuhalten. Die Polarität des Lebens als Gegebenheit zu akzeptieren, liegt Kindern ohnehin nahe,nur bei Erwachsenen wird eine Frage der bewussten Haltung daraus, um außer Freuden auch Belastungen, außer Erfolgen auch Misserfolge, außer dem angenehmen Wohlgefühl auch ein Unwohlsein, außer Lüsten auch Schmerzen, außer der Oberfläche auch Abgründigkeit besser verkraften zu können.
Selbst das Unglücklichsein kann ins Leben integriert werden, wie dies beispielsweise die irische Schriftstellerin Ethel Voynich, geborene Boole, vermochte, die bald nach der Geburt ihre Eltern verlor und mit ihren Schwestern bei einem Onkel aufwuchs, der sie missbrauchte. Als Jugendliche trug sie Schwarz als Ausdruck ihrer Trauer, bevor sie ein abenteuerliches Leben quer durch Europa zu führen begann, in Berlin Musik studierte und 1897 den Bestseller Die Stechfliege ( The Gadfly ) publizierte, 1955 mit Musik von Dmitri Schostakowitsch verfilmt. 1960
Weitere Kostenlose Bücher