Dem Pharao versprochen
zu schweigen …
Anchesenamun schöpfte wieder etwas Mut. Möglicherweise passierte gar nichts. Es konnte ja sein, dass es dem Beobachter nur peinlich war, was er da gesehen hatte. Oder er hatte sie gar nicht erkannt oder für eine Dienerin gehalten …
Anchesenamun kehrte zu ihrem Bett zurück und legte sich wieder hin. Draußen begann ein Vogel zu singen, es graute bereits der Morgen.
Ein neuer Tag. Was würde er bringen?
Ehrwürdiger Pharao, geliebter Tutanchamun!
Möge Dich dieses Schreiben heil und unversehrt erreichen! Möge Dein Leben ewig dauern!
Ich weiß, Du bist damit beschäftigt, den Feind in Schranken zu verweisen und unser Land zu schützen. Mögen die Götter mit Dir sein und Dir Kraft und Deinen Soldaten Mut schenken!
Doch manchmal lauert der Feind nicht in der Ferne, sondern leider in der unmittelbaren Nähe. Deshalb erlaube ich, Eje, Dein enger Vertrauter und Ratgeber, mir, Dir einige offene Worte zu schreiben, die Du mir hoffentlich nicht verübelst. Du hättest Deine Gemahlin nicht in Waset zurücklassen dürfen.
Eje ließ die Feder sinken und starrte auf den Papyrus. War es richtig, dem Pharao einen Brief zu schreiben und ihn darauf hinzuweisen, dass seine Gattin ihm möglicherweise nicht treu war?
Er kannte Tutanchamun seit seiner Geburt und hatte sich immer für ihn verantwortlich gefühlt. Er hatte miterlebt, wie aus dem schwächlichen Jungen mit dem Klumpfuß ein attraktiver junger Mann geworden war, der sich Ziele setzte und mit Willenskraft gegen seine körperliche Beeinträchtigung kämpfte.
Tut hatte es nicht leicht gehabt. Er hatte schon als Junge den Pharaonenthron besteigen müssen, weil es keinen anderen Nachfolger gab. Während andere Jungen in seinem Alter noch unbeschwert spielten, hatte Tut bereits Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen müssen. Natürlich konnte so ein kleiner Junge gar nicht das politische Geschehen überblicken, selbst wenn man ihm sagte, wer Freund oder Feind war. Er war auf Hilfe und Unterstützung angewiesen – und er hätte keinen besseren Ratgeber finden können als Eje.
Eje schmunzelte vor sich hin, als er an die vergangenen Zeiten dachte. Er sah den neunjährigen Tut vor sich, wie dieser ihm andächtig zuhörte und zwischendrin kluge Fragen stellte. Ejes Idee war es auch gewesen, Tut so früh wie möglich mit Anchesenamun zu verheiraten, um seine königliche Stellung zu festigen. Wäre Anchesenamun als Junge geboren worden, hätte sie selbst Ansprüche auf den Pharaonenthron gehabt …
Eje sah die junge Frau vor sich. Ihr hübsches Gesicht, die schönen großen Augen, die vollen Lippen, die sich immer leicht öffneten, wenn sie jemandem konzentriert lauschte. Ihr bezauberndes Lächeln und das Strahlen in ihren Augen, sobald sie sich freute. Ihre anmutigen Bewegungen, die langen schlanken Beine … Eje seufzte. Anchesenamun war wunderschön, ein Ebenbild ihrer Mutter Nofretete, die zahlreichen Männern den Kopf verdreht hatte. Sie war die schönste der ursprünglich sechs Schwestern; die anderen vier, die noch lebten, waren zwar auch hübsch, hatten aber kleinere Makel … Die eine hatte etwas schiefe Zähne, die andere unterschiedlich gefärbte Augen, die dritte hatte durch eine Krankheit ihr dichtes Haupthaar verloren und musste fortan Perücken tragen und die vierte schielte und hatte einen verkrüppelten kleinen Finger.
Ejes Gedanken verloren sich. Wenn Tutanchamun etwas zustieß – was auf dem Feldzug leicht passieren konnte –, würde Anchesenamun Witwe sein. Eine sehr attraktive Witwe … Wer sie heiratete, bekam nicht nur eine wunderschöne Frau, sondern erwarb auch Anspruch auf den Königsthron.
In seinen Träumen sah sich Eje bereits als zukünftiger Gatte Anchesenamuns. Er besaß zwar schon eine Gemahlin, aber es war nicht verboten, sich eine zweite Frau zu nehmen … Tij würde vor Eifersucht schäumen, das konnte er sich schon jetzt vorstellen. Doch als ehemaliger Vormund Tutanchamuns besaß Eje alle Eigenschaften, die ein zukünftiger Pharao brauchen würde …
Er würde auf dem Thron sitzen und Ober- und Unterägypten regieren! Und nachts würde Anchesenamun sein Lager teilen. Sicher war er noch nicht zu alt, um Kinder zu zeugen. Und einer seiner Söhne würde dann nach ihm Herrscher über das Land sein …
Eje wandte sich wieder seinem Brief zu und las noch einmal, was er bisher geschrieben hatte. Nachdenklich kaute er an der Rohrfeder. War es denn überhaupt klug, diesen Brief zu
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