Dem Tod auf der Spur
bestimmen.
Weniger leicht zu erklären als die guterhaltenen Körper- und Gesichtskonturen der im See gefundenen Leiche war für uns die ungewöhnliche Aufmachung. Aber jemand aus unserem Team hatte eine Idee, wie man der Sache auf den Grund gehen könnte. »Vielleicht sollten wir mal in der Universität beim Fachbereich für Geschichte anrufen. Die könnten doch einen Professor vorbeischicken, der sich die Bekleidung genauer ansieht und uns sagen kann, ob wir es hier tatsächlich mit einem historischen Leichenfund zu tun haben.«
Die im Institut anwesenden Ermittler der Kripo griffen die Idee dankbar auf und schritten umgehend zur Tat. Wenig später ließ ein Experte seinen fachmännischen Blick über die Kleider wandern, die wir dem Toten ausgezogen hatten. Seine Einschätzung nach der Inspektion: Gehrock und Schuhe des Mannes entsprachen tatsächlich der Mode des 19. Jahrhunderts und waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Originalstücke. Die letzten Zweifel beseitigte das Gutachten eines Textilexperten des Landeskriminalamtes. Wir hatten es also in der Tat mit einem natürlich konservierten Toten zu tun, der vor 100 Jahren oder früher in dem See versunken war.
Das hieß zum einen: Der Mann vor uns auf dem Stahltisch war ein ausgesprochen spektakulärer Fund. Doch zum anderen hieß es: Es gab keinen Fall, den wir aufklären mussten. Denn auch wenn es sich um einen Mord handelte – der Mörder wäre ebenfalls nicht mehr am Leben.
Deshalb ordnete die Staatsanwaltschaft auch keine Obduktion an. Für die Strafverfolgungsbehörden reichte die Feststellung aus, dass es sich nicht um einen aktuellen oder aus neuerer Zeit stammenden Todesfall handelte. Doch wie ich ja schon in der Einleitung zu diesem Buch betont habe: Die Rechtsmedizin will von den Toten für die Lebenden lernen. Also ist auch die Forschung ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Deshalb wurde unserem rechtsmedizinischen Team erlaubt, ein kleines Stück des Oberschenkelknochens des Toten zu entnehmen und etwas näher zu untersuchen.
Um das genaue Alter von Knochen und anderen organischen Materialien zu bestimmen, gibt es unterschiedliche Datierungsmethoden, von denen die bekannteste die »Radiokarbonmethode« ist, auch »Radiokohlenstoffdatierung« oder »C14-Methode« genannt. Sie findet nicht nur in der Archäologie, Anthropologie, Klimatologie und Geologie Anwendung, sondern in Einzelfällen auch in der Rechtsmedizin.
Mit Hilfe der C14-Methode kann man sowohl »nur« einige Hundert Jahre junge Knochen als auch alle kohlenstoffhaltigen Gegenstände, die nicht älter als 55.000 Jahre sind, datieren.
Die C14-Methode basiert auf dem natürlichen Zerfall von in der Natur vorkommenden radioaktiven Elementen, der sogenannten Isotope. Hierbei läuft folgender Prozess ab: In der oberen Erdatmosphäre entsteht durch kosmische Strahlung aus dem Stickstoff-Isotop N14 das radioaktive Kohlenstoff-Isotop C14 (N und C sind die Elementarbezeichnungen für die Elemente Stickstoff und Kohlenstoff).
Während der Photosynthese der Pflanzen, also dem Aufbau von Kohlenhydraten aus Kohlendioxid und Wasser mit Hilfe von Licht- bzw. Sonnenenergie, werden sowohl das C14-Isotop als auch das stabile und »gewöhnliche« C12-Isotop von den Pflanzen aufgenommen. Diese beiden Isotope gelangen schließlich mit den Pflanzen in den Nahrungskreislauf und damit in den menschlichen und tierischen Organismus. Im Organismus bildet sich dann ein konstantes Verhältnis von C14- zu C12-Isotopen – jedenfalls, solange der Organismus noch lebt, da ja beständig neue Nahrung aufgenommen und ausgeschieden wird. Stirbt das Lebewesen, wird natürlich kein neuer Kohlenstoff mehr aufgenommen, und das instabile Isotop C14 zerfällt mit konstanter Geschwindigkeit.
Die Halbwertszeit, also die Zeit, in der sich die Menge an C14-Isotopen im Gewebe halbiert, ist bekannt, sie beträgt 5.730 Jahre. Um das Alter einer Probe ermitteln zu können, ist es also notwendig, den Anteil der noch vorhandenen C14-Atome herauszufinden.
Da das stabile C12-Isotop nicht zerfällt, kann man das Alter von organischen Stoffen – und eben auch derKnochen Verstorbener – aus dem Verhältnis von C14- zu C12-Isotopen berechnen.
Unser Toter aus dem See war laut Textilgutachten und dem Ergebnis der C14-Untersuchung gegen Ende des 19. Jahrhunderts gestorben.
Das Leichenwachs-Phänomen erklärt, wie er so lange erhalten bleiben konnte. Eine andere naheliegende Frage beantwortet es nicht: Wenn der
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