Dem Tod auf der Spur
Verstorbene mehr als ein Jahrhundert auf dem Grund des Sees gelegen hatte, warum war er nach über hundert Jahren plötzlich an der Wasseroberfläche aufgetaucht?
Auch hier ist die Lösung des Rätsels ein bekanntes und naturwissenschaftlich relativ leicht zu erklärendes Phänomen, wenn auch gleichzeitig ein warnendes Beispiel für die Folgen des Klimawandels: Der Tote lag über ein Jahrhundert auf dem Grund des Sees, wo die Wassertemperatur nur vier Grad Celsius beträgt. Das ist nicht nur die übliche Kühlschranktemperatur, sondern auch die Temperatur, bei der Verstorbene im Kühlraum der Rechtsmedizin aufbewahrt werden, da bei dieser Temperatur die Fäulnisprozesse aufgehalten werden.
Die allmähliche Erderwärmung während der letzten Jahrzehnte sorgte dafür, dass die Wassertemperatur am Grund des Sees auf über vier Grad Celsius anstieg. Daraufhin begannen sich nun im Leichnam Fäulnisgase zu bilden, die dem Toten Auftrieb verliehen. So gelangte der Mann aus dem vorletzten Jahrhundert schließlich vom Grund des Sees an die Wasseroberfläche, wo er von dem Pärchen im Boot entdeckt wurde.
Aber nicht nur in Gewässern wie Seen oder Flüssenkann es zu natürlicher Leichenkonservierung kommen. Jeder hat schon einmal von Moorleichen gehört, menschlichen Überresten, die im sauren Milieu eines Hochmoores für die Ewigkeit konserviert worden sind. Die eindrucksvollsten Moorleichen sind in Schloss Gottorf in Schleswig ausgestellt. Das archäologische Museum dort war in meiner Kindheit ein beliebtes sonntägliches Ausflugsziel meiner Mutter und meiner Großmutter. Unzählige Stunden habe ich mir als Junge dort die Nase an den Scheiben platt gedrückt, vor dem »Mädchen von Windeby« (das nach Ergebnis der DNA-Analysen allerdings ein Junge ist), vor den »Männern von Damensdorf« oder vor dem Schädel des »Mannes von Osterby«. Ich war schon damals fasziniert von den Theorien über die Todesursachen der dort gezeigten Moorleichen. Waren sie hingerichtete Straftäter? Menschenopfer für heidnische Götter? Waren es Arme-Leute-Begräbnisse (denn damals wurden die betuchteren Verstorbenen für gewöhnlich verbrannt und die Asche mit persönlichen Grabbeigaben bestattet)? Oder waren einige von ihnen vielleicht nur einfach aus Unachtsamkeit im Moor versunken?
Die meisten Fachleute sind sich allerdings einig, dass Menschen, die als Moorleichen für die Ewigkeit konserviert wurden, wahrscheinlich unter ungewöhnlichen Umständen starben. Versinken Menschen im Hochmoor, werden ihre Überreste durch Sauerstoffabschluss und die Einwirkung von Huminsäuren konserviert. Huminsäuren sind hochmolekulare chemische Verbindungen, die Fäulnisprozesse und somit auch Leichenfäulnis hemmen. Diese Toten werden meist in unteren Torfschichten der Moore stark zusammengedrückt aufgefunden. Ihre Haut sieht schmutzig aus und ist dunkelbraun bis schwarz verfärbt und, wenn sie geborgen werden, noch feucht und verformbar wie weich gegerbtes Leder. Nach der Bergung setzen sehr schnell die sonst üblichen Fäulnisprozesse wieder ein. Daher muss man die Moorleichen rasch konservieren, wenn man sie in ihrer ursprünglichen Form und Verfassung erhalten will.
Besonders im norddeutschen und südskandinavischen Raum findet man heute noch Moorleichen. Bei fast allen kann man erkennen, woran sie gestorben sind, wenn es kein natürlicher Tod war. So zeigt der »Tollund-Mann« aus Dänemark, dessen Gesicht durch die Mumifizierung bis in kleinste Einzelheiten erhalten ist, auch nach fast zwei Jahrtausenden noch Strangulationsmarken am Hals, die dafür sprechen, dass er entweder durch Erhängen oder Erdrosseln ums Leben kam.
Wie bei Fettwachsleichen lässt sich auch an vielen Moorleichen noch problemlos eine DNA-Analyse durchführen – da es eben durch die nicht stattgefundene Leichenfäulnis auch nicht zu einer Zersetzung (»Degradation«) der Proteine und Nukleinsäuren und damit der DNA gekommen ist. Messergebnisse der C14-Methode lassen darauf schließen, dass die ältesten Moorleichen bis zu 2.500 Jahre alt sind.
Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war man in der Wissenschaft übrigens der Meinung, dass für die Bildung einer typischen Moorleiche mehrere Jahrhunderte vergehen müssten. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch fanden Bauern beim Torfabbau in Niedersachsen Moorleichen von deutschen und britischen Bomber-Piloten, die mit ihren Maschinen über dem Moor abgestürzt und dann darin versunken waren. Sie zeigten bereits alle
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