Dem Tod auf der Spur
Jessica wurde seitdem in ihrem Zimmer im Dunkeln gefangen gehalten, ohne Spielzeug, völlig vernachlässigt, verschmutzt und hungrig, wie ein Tier. Nachbarn hatten das Kind nie gesehen. Die Eltern ließen Jessica oft tage- und nächtelang allein, gaben ihr entweder überhaupt nichts oder viel zu wenig zu essen und zu trinken. Während Vater und Mutter Sozialhilfe und Kindergeld in Kneipen und Spielhallen ausgaben, litt Jessica einsam in der schwarzen Enge ihres kleinen Zimmers. Der Regler des Heizkörpers war mit einem Kabelbinder auf Stufe 0 fixiert, ein ähnlicher Kabelbinder, wie er auch die Windel von Jessica hielt. Jessica muss in den Wintermonaten unter extremer Auskühlung gelitten haben. Während sie den Putz von den Wänden kratzte, um überhaupt die Illusion von etwas Essbarem zu haben, saß nebenan im Wohnzimmer die wohlgenährte Katze in Gesellschaft der Eltern.
»Eine Handlung wie diese übersteigt die Vorstellungskraft«, sagte der vorsitzende Richter später bei der Urteilsverkündung. Ich saß als Sachverständiger im Gerichtssaal und hatte Gelegenheit, die Eltern zu beobachten: Vera Fechners Augen schauten starr ins Leere, ihr Lebensgefährte Otto Hübner blickte abwechselnd auf den Strafverteidiger und auf seine Uhr. Der psychiatrische Sachverständige fand bei der Mutter des Kindes keinen Hinweis auf eine Beeinträchtigung ihrer Schuldfähigkeit. Vera Fechner habe zwar eine »miserable Kindheit« in einem »verwahrlosten Haushalt« bei ihrer alkoholkranken Mutter gehabt und mit 18 Jahren bereits ihr erstes Kind bekommen, das bald darauf zur Adoption freigegeben wurde, dennoch sei, so der Richter, diese unvergleichliche Tat damit in keiner Weise gerechtfertigt oder begründet. Otto Hübner hingegen wurde eine eingeschränkte Schuldfähigkeit attestiert, die auf einem frühkindlichen Hirnschaden und langjährigem Alkoholmissbrauch, verbunden mit einem erheblichen emotionalen Defizit – Soziopathie –, basierte.
Jessicas Eltern wurden wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
»Sie haben aus mitleidloser, gefühlloser und böswilliger Gesinnung gehandelt, weil Sie Ihr Leben bei Bekannten und beim Darts leben wollten«, sagte der Richter bei der Urteilsverkündung zu den Eltern.
Wenn ich die Möglichkeit hätte, den Eltern von Jessica oder Eltern anderer vernachlässigter Kinder etwas zu sagen, jenseits der rechtsmedizinischen Gutachten, die ich für den Gerichtsprozess erstelle, hätte ich davonGebrauch gemacht? Die Antwort ist nein. Mein Job beschränkt sich darauf, die medizinischen Fakten, die für ein Verbrechen von Relevanz sind, ans Licht zu bringen. Die Schicksale hinter den Verstorbenen, die auf meinem Obduktionstisch landen, sind oft furchtbar und böten ausreichend Anlass, sich emotional darin zu vertiefen, den Angehörigen Beistand zu leisten oder überführten Tätern deutlich die Meinung zu sagen. Doch das fällt nicht in meinen Kompetenzbereich und würde die für jeden Rechtsmediziner unverzichtbare Objektivität und Unvoreingenommenheit beeinträchtigen.
Trotzdem habe ich natürlich eine Meinung zu einem solchen Fall brutalster Vernachlässigung und frage mich als Vater zweier Kinder, was bei der Familie von Jessica so unglaublich schiefgelaufen ist, dass so etwas geschehen konnte, und ob Vernachlässigung ein Phänomen unserer Zeit ist. Denn Jessica ist kein Einzelfall. Nicht nur in Bezug auf überforderte Eltern, sondern auch im Hinblick auf all die Menschen, die qualvoll leben und qualvoll sterben, ohne dass ihr Umfeld davon Notiz nimmt oder auch nur irgendetwas ahnt. Niemand sah Jessica, keine Freunde, keine Verwandten, aber auch keine Ärzte oder Behörden! Als sie trotz schulpflichtigen Alters nicht in der Schule erschien, erhielten die Eltern lediglich einen Mahnbescheid – den sie nicht bezahlten. Nach und nach geriet Jessica komplett aus dem Blickfeld ihrer Umgebung, wurde quasi unsichtbar – bis sie schließlich wirklich aufhörte zu existieren.
Bei der Obduktion ging es zentral um die Frage, welcher der zahlreichen durch Vernachlässigung verursachten körperlichen Schäden letztendlich den Tod herbeigeführt hatte.
Jessicas Körper verfügte über keinerlei Unterhautfettgewebe mehr. Die Organe wie Lunge und Leber waren fast blutleer und kaum mehr funktionsfähig.Alle inneren Organe besaßen nur noch zwischen 10 und 60 Prozent ihres normalen Gewichts.
Im Magen fanden wir Nahrungsreste, die tatsächlich vom Vorabend stammten. Die faserige Struktur und
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