Dem Winde versprochen
ihrem Blick.
»Isaura, schenk mir doch dein Vertrauen.«
Als sie diese Worte hörte, überkam sie ein Gefühl von Frieden. Sie trat zu ihm und legte ihre Wange auf seine Brust. »Roger«, seufzte sie.
Blackraven war gerührt von ihrer Hingabe. Er spürte immer noch ihre Angst und Verwundbarkeit, aber er vertraute darauf, dass ihre Stärke siegen würde, die ihn anfangs so fasziniert hatte.
Die Tür zum Büro ging auf. Es war Trinaghanta, die den Brandy nachgefüllt hatte.
»Am besten, ich gehe jetzt schlafen«, sagte Melody und löste sich aus der Umarmung, bevor die Dienerin in das Billardzimmer trat.
»Ja, mach das«, erwiderte er, obwohl es ihm schwerfiel, ihre Hände loszulassen.
Stunden später fand Roger Blackraven immer noch keinen Schlaf. Er saß auf dem oberen Balkon und genoss den ruhigen Sommerabend, der so gar nicht zu seinem Gemütszustand passte. Er dachte über die vielen Veränderungen in der letzten Zeit nach. Er führte die Okarina an die Lippen und entlockte ihr eine getragene, melancholische kleine Melodie.
Sansón, der neben ihm lag, sprang plötzlich auf und knurrte. Gleich danach tauchte Jimmy auf. Verblüfft legte Blackraven die Okarina beiseite.
»Junge, ich hab dich gar nicht kommen hören.«
»Ich habe die Musik gehört.«
»Schleich dich nie wieder so an in der Nacht! Du hättest Schaden nehmen können.«
»Warum?«
»Weil ich dich für einen Dieb gehalten und beinahe niedergeschlagen hätte.«
Jimmy lachte, und Blackraven empfand große Sympathie für den Kleinen, der seiner Schwester so ähnlich war.
»Was tust du hier? Warum schläfst du nicht? Wenn deine Schwester aufwacht und dich nicht in deinem Bett vorfindet, wird sie sich Sorgen machen.«
»Meine Schwester weint. Ich mag es nicht, wenn sie weint. Deshalb gehe ich weg.«
»Geh in Víctors Zimmer. Leg dich in sein Bett und schlaf dort. Auf!«
Jimmy machte sich auf den Weg, gefolgt von Sansón, und Blackraven ging in Melodys Zimmer. Schon in der Tür hörte er das Schluchzen. Anscheinend hatte sie einen Albtraum. Ihrem verzerrten Gesicht und ihren krampfartigen Zuckungen nach zu urteilen, musste es ein schrecklicher Traum sein.
Er setzte sich an den Bettrand, nahm sie in den Arm und drückte ihren Kopf an seine nackte Brust.
»Wach auf, Liebes. Es ist nur ein Albtraum. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ja da.«
Melody wachte auf. Sie war verwirrt. Da erkannte sie Blackraven, schlang die Arme um seinen Hals und fing an zu weinen.
»Oh, Roger!«
»Beruhige dich, du hast nur schlecht geträumt. Ich bin doch hier, was sollte dir also passieren? Willst du mir erzählen, was du geträumt hast?« Sie schüttelte den Kopf. »Leg dich wieder hin und versuche zu schlafen. Sieh mal.«
»Was ist das?«
»Ein Musikinstrument. Es heißt Okarina. Ich werde es für dich spielen.«
Die Zartheit der Melodie entlockte ihr ein Lächeln. Sie musste an das Arkanum denken, an den Herrscher und Mars, den Krieger, überzeugt, dass Madame Odile recht hatte. Blackraven war beides, Mars und Krieger, aber nur ihr offenbarte er seine sanfte Seite. Ihr wurde klar, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. Zu den Klängen der Okarina schlief sie ein.
Ruhig und schön lag sie da, der Körper von zartem Leinen umhüllt. Er fuhr mit der Hand über den nackten Arm und zog das Nachthemd nach unten, bis die Schulter freilag. Dann beugte er sich hinunter und küsste sie. Sie lag weiterhin ruhig da, und das ermutigte ihn. Er strich das Haar beiseite und dabei ertasteten seine Finger auf Höhe des Schulterblatts eine unregelmäßige Vertiefung, die sich seltsam anfühlte.
Er vermutete, dass es sich um eine Narbe handelte; doch im
Mondlicht war das nicht zu erkennen. Er zündete eine Kerze an und hielt sie an Melodys Rücken. In der Tat: Eine Narbe, oder eher noch eine Brandnarbe. Sein Magen zog sich zusammen, und seine Kehle wurde ganz trocken, als ihm klar wurde, dass es sich um die Markierung eines Brenneisens handelte. Und in der Mitte des Rückens und auf dem linken Schulterblatt auf gleicher Höhe zwei weitere Narben. Dreimal hatte man Isaura gebrandmarkt.
Er biss in seine Faust, um nicht vor Wut und Schmerz aufzuschreien. Alles verschwamm vor seinen Augen. Mühsam stand er auf. Das Blut pochte in seinen Schläfen, und Schwindel erfasste ihn. Er taumelte zurück in sein Zimmer und ging hinaus auf den Balkon an die frische Luft. Dort sank er zu Boden und fing an zu weinen wie ein kleines Kind.
Kapitel
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