Demian
Pfarrer suchte nach einem Schüler, den er ein Stück Katechismus hersagen lassen wollte, und sein schweifendes Auge blieb auf meinem schuldbewußtenGesicht hängen. Langsam kam er heran, streckte den Finger gegen mich aus, hatte schon meinen Namen auf den Lippen – da wurde er plötzlich zerstreut oder unruhig, rückte an seinem Halskragen, trat auf Demian zu, der ihm fest ins Gesicht sah, schien ihn etwas fragen zu wollen, wandte sich aber überraschend wieder weg, hustete eine Weile und forderte dann einen andern Schüler auf.
Erst allmählich merkte ich, während diese Scherze mich sehr belustigten, daß mein Freund mit mir häufig dasselbe Spiel treibe. Es kam vor, daß ich auf dem Schulweg plötzlich das Gefühl hatte, Demian gehe eine Strecke hinter mir, und wenn ich mich umwandte, war er richtig da.
»Kannst du denn eigentlich machen, daß ein anderer das denken muß, was du willst?« fragte ich ihn.
Er gab bereitwillig Auskunft, ruhig und sachlich, in seiner erwachsenen Art.
»Nein«, sagte er, »das kann man nicht. Man hat nämlich keinen freien Willen, wenn auch der Pfarrer so tut. Weder kann der andere denken, was er will, noch kann ich ihn denken machen, was ich will. Wohl aber kann man jemand gut beobachten, und dann kann man oft ziemlich genau sagen, was er denkt oder fühlt, und dann kann man meistens auch voraussehen, was er im nächsten Augenblick tun wird. Es ist ganz einfach, die Leute wissen es bloß nicht. Natürlich braucht es Übung. Es gibt zum Beispiel bei den Schmetterlingen gewisse Nachtfalter, bei denen sind die Weibchen viel seltener als die Männchen. Die Falter pflanzen sich gerade so fort wie alle Tiere, der Mann befruchtet das Weibchen, das dann Eier legt. Wenn du nun von diesen Nachtfaltern ein Weibchen hast – es ist von Naturforschern oft probiert worden –, so kommen in der Nacht zu diesem Weibchen die männlichen Falter geflogen, und zwar stundenweit! Stundenweit, denke dir! Auf viele Kilometer spüren alle diese Männchen das einzige Weibchen, das in der Gegend ist! Man versucht das zu erklären, aber es geht schwer. Es muß eine Art Geruchssinn oder so etwas sein, etwa so wie gute Jagdhunde eine unmerkliche Spur finden und verfolgen können. Du begreifst? Das sind solche Sachen, die Natur ist voll davon, und niemand kann sie erklären. Nun sage ich aber: wären bei diesen Schmetterlingen die Weibchen so häufig wie die Männchen, so hätten siedie feine Nase eben nicht! Sie haben sie bloß, weil sie sich darauf dressiert haben. Wenn ein Tier oder Mensch seine ganze Aufmerksamkeit und seinen ganzen Willen auf eine bestimmte Sache richtet, dann erreicht er sie auch. Das ist alles. Und genau so ist es mit dem, was du meinst. Sieh dir einen Menschen genau genug an, so weißt du mehr von ihm als er selber.«
Mir lag es auf der Zunge, das Wort »Gedankenlesen« auszusprechen und ihn damit an die Szene mit Kromer zu erinnern, die so lang zurücklag. Aber dies war nun auch eine seltsame Sache zwischen uns beiden: nie und niemals machte weder er noch ich die leiseste Anspielung darauf, daß er vor mehreren Jahren einmal so ernstlich in mein Leben eingegriffen hatte. Es war, als sei nie etwas früher zwischen uns gewesen, oder als rechne jeder von uns fest damit, daß der andere das vergessen habe. Es kam, ein- oder zweimal, sogar vor, daß wir zusammen über die Straße gingen und den Franz Kromer antrafen, aber wir wechselten keinen Blick, sprachen kein Wort von ihm.
»Aber wie ist nun das mit dem Willen?« fragte ich. »Du sagst, man hat keinen freien Willen. Aber dann sagst du wieder, man brauche nur seinen Willen fest auf etwas zu richten, dann könne man sein Ziel erreichen. Das stimmt doch nicht! Wenn ich nicht Herr über meinen Willen bin, dann kann ich ihn ja auch nicht beliebig da- oder dorthin richten.«
Er klopfte mir auf die Schulter. Das tat er stets, wenn ich ihm Freude machte.
»Gut, daß du fragst!« sagte er lachend. »Man muß immer fragen, man muß immer zweifeln. Aber die Sache ist sehr einfach. Wenn so ein Nachtfalter zum Beispiel seinen Willen auf einen Stern oder sonstwohin richten wollte, so könnte er das nicht. Nur – er versucht das überhaupt nicht. Er sucht nur das, was Sinn und Wert für ihn hat, was er braucht, was er unbedingt haben muß. Und eben da gelingt ihm auch das Unglaubliche – er entwickelt einen zauberhaften sechsten Sinn, den kein anderes Tier außer ihm hat! Unsereiner hat mehr Spielraum, gewiß, und mehr Interessen als ein
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