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Demian

Demian

Titel: Demian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte! Also müssen wir dann neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst haben. Das fände ich richtig. Oder aber, man müßte sich einen Gott schaffen, der auch den Teufel in sich einschließt, und vor dem man nicht die Augen zudrücken muß, wenn die natürlichsten Dinge von der Welt geschehen.«
    Er war, gegen seine Art, beinahe heftig geworden, gleich darauf lächelte er jedoch wieder und drang nicht weiter in mich.
    In mir aber trafen diese Worte das Rätsel meiner ganzen Knabenjahre, das ich jede Stunde in mir trug und von dem ich nie jemandem ein Wort gesagt hatte. Was Demian da über Gott undTeufel, über die göttlich-offizielle und die totgeschwiegene teuflische Welt gesagt hatte, das war ja genau mein eigener Gedanke, mein eigener Mythus, der Gedanke von den beiden Welten oder Welthälften – der lichten und der dunkeln. Die Einsicht, daß mein Problem ein Problem aller Menschen, ein Problem alles Lebens und Denkens sei, überflog mich plötzlich wie ein heiliger Schatten, und Angst und Ehrfurcht überkam mich, als ich sah und plötzlich fühlte, wie tief mein eigenstes, persönliches Leben und Meinen am ewigen Strom der großen Ideen teilhatte. Die Einsicht war nicht freudig, obwohl irgendwie bestätigend und beglückend. Sie war hart und schmeckte rauh, weil ein Klang von Verantwortlichkeit in ihr lag, von Nichtmehrkindseindürfen, von Alleinstehen.
    Ich erzählte, zum erstenmal in meinem Leben ein so tiefes Geheimnis enthüllend, meinem Kameraden von meiner seit frühesten Kindertagen bestehenden Auffassung von den »zwei Welten«, und er sah sofort, daß damit mein tiefstes Fühlen ihm zustimmte und recht gab. Doch war es nicht seine Art, so etwas auszunützen. Er hörte mit tieferer Aufmerksamkeit zu, als er sie mir je geschenkt hatte, und sah mir in die Augen, bis ich die meinen abwenden mußte. Denn ich sah in seinem Blick wieder diese seltsame, tierhafte Zeitlosigkeit, dies unausdenkliche Alter.
    »Wir reden ein andermal mehr davon«, sagte er schonend. »Ich sehe, du denkst mehr, als du einem sagen kannst. Wenn das nun so ist, dann weißt du aber auch, daß du nie ganz das gelebt hast, was du dachtest, und das ist nicht gut. Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert. Du hast gewußt, daß deine ›erlaubte Welt‹ bloß die Hälfte der Welt war, und du hast versucht, die zweite Hälfte dir zu unterschlagen, wie es die Pfarrer und Lehrer tun. Es wird dir nicht glücken! Es glückt keinem, wenn er einmal das Denken angefangen hat.«
    Es traf mich tief.
    »Aber«, schrie ich fast, »es gibt doch nun einmal tatsächlich und wirklich verbotene und häßliche Dinge, das kannst du doch nicht leugnen! Und die sind nun einmal verboten, und wir müssen auf sie verzichten. Ich weiß ja, daß es Mord und alle möglichen Laster gibt, aber soll ich denn, bloß weil es das gibt, hingehen und ein Verbrecher werden?«
    »Wir werden heute nicht damit fertig«, begütigte Max. »Du sollst gewiß nicht totschlagen oder Mädchen lustmorden, nein. Aber du bist noch nicht dort, wo man einsehen kann, was ›erlaubt‹ und ›verboten‹ eigentlich heißt. Du hast erst ein Stück von der Wahrheit gespürt. Das andere kommt noch, verlaß dich drauf! Du hast jetzt zum Beispiel, seit einem Jahr etwa, einen Trieb in dir, der ist stärker als alle andern, und er gilt für ›verboten‹. Die Griechen und viele andere Völker haben im Gegenteil diesen Trieb zu einer Gottheit gemacht und ihn in großen Festen verehrt. ›Verboten‹ ist also nichts Ewiges, es kann wechseln. Auch heute darf ja jeder bei einer Frau schlafen, sobald er mit ihr beim Pfarrer gewesen ist und sie geheiratet hat. Bei andern Völkern ist das anders, auch heute noch. Darum muß jeder von uns für sich selber finden, was erlaubt und was verboten – ihm verboten ist. Man kann niemals etwas Verbotenes tun und kann ein großer Schuft dabei sein. Und ebenso umgekehrt. – Eigentlich ist es bloß eine Frage der Bequemlichkeit! Wer zu bequem ist, um selber zu denken und selber sein Richter zu sein, der fügt sich eben in die Verbote, wie sie nun einmal sind. Er hat es leicht. Andere spüren selber Gebote in sich, ihnen sind Dinge verboten, die jeder Ehrenmann täglich tut, und es sind ihnen andere Dinge erlaubt, die sonst verpönt sind. Jeder muß für sich selber stehen.«
    Er schien plötzlich zu bereuen, so viel gesagt zu haben, und brach ab. Schon damals konnte ich mit dem Gefühl einigermaßen begreifen,

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