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Demian

Demian

Titel: Demian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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wo ich Zweifel hatte, wußte ich doch aus der ganzen Erfahrung meiner Kindheit genug von der Wirklichkeit eines frommen Lebens, wie es etwa meine Eltern führten, und daß dies weder etwas Unwürdiges noch geheuchelt sei. Vielmehr hatte ich vor dem Religiösen nach wie vor die tiefste Ehrfurcht. Nur hatte Demian mich daran gewöhnt, die Erzählungen und Glaubenssätze freier, persönlicher, spielerischer, phantasievoller anzusehenund auszudeuten; wenigstens folgte ich den Deutungen, die er mir nahelegte, stets gern und mit Genuß. Vieles freilich war mir zu schroff, so auch die Sache wegen Kain. Und einmal während des Konfirmationsunterrichtes erschreckte er mich durch eine Auffassung, die womöglich noch kühner war. Der Lehrer hatte von Golgatha gesprochen. Der biblische Bericht vom Leiden und Sterben des Heilandes hatte mir seit frühester Zeit tiefen Eindruck gemacht, manchmal als kleiner Knabe hatte ich, etwa am Karfreitag, nachdem mein Vater die Leidensgeschichte vorgelesen hatte, innig und ergriffen in dieser leidvoll schönen, bleichen, gespenstigen und doch ungeheuer lebendigen Welt gelebt, in Gethsemane und auf Golgatha, und beim Anhören der Matthäuspassion von Bach hatte mich der düster mächtige Leidensglanz dieser geheimnisvollen Welt mit allen mystischen Schauern überflutet. Ich finde heute noch in dieser Musik, und im »Actus tragicus«, den Inbegriff aller Poesie und alles künstlerischen Ausdrucks.
    Nun sagte Demian am Schluß jener Stunde nachdenklich zu mir: »Da ist etwas, Sinclair, was mir nicht gefällt. Lies einmal die Geschichte nach und prüfe sie auf der Zunge, es ist da etwas, was fad schmeckt. Nämlich die Sache mit den beiden Schächern. Großartig, wie da die drei Kreuze auf dem Hügel beieinanderstehen! Aber nun diese sentimentale Traktätchengeschichte mit dem biederen Schächer! Erst war er ein Verbrecher und hat Schandtaten begangen, weiß Gott was alles, und nun schmilzt er dahin und feiert solche weinerlichen Feste der Besserung und Reue! Was für einen Sinn hat solche Reue zwei Schritt vom Grabe weg, ich bitte dich? Es ist wieder einmal nichts als eine richtige Pfaffengeschichte, süßlich und unredlich, mit Schmalz der Rührung und höchst erbaulichem Hintergrund. Wenn du heute einen von den beiden Schächern zum Freund wählen müßtest oder dich besinnen, welchem von beiden du eher Vertrauen schenken könntest, so ist es doch ganz gewiß nicht dieser weinerliche Bekehrte. Nein, der andere ist’s, der ist ein Kerl und hat Charakter. Er pfeift auf eine Bekehrung, die ja in seiner Lage bloß noch ein hübsches Gerede sein kann, er geht seinen Weg zu Ende und sagt sich nicht im letzten Augenblick feig vom Teufel los, der ihm bis dahin hat helfen müssen. Er ist ein Charakter, und die Leute von Charakter kommen in der biblischen Geschichtegern zu kurz. Vielleicht ist er auch ein Abkömmling von Kain. Meinst du nicht?«
    Ich war sehr bestürzt. Hier in der Kreuzigungsgeschichte hatte ich ganz heimisch zu sein geglaubt und sah erst jetzt, wie wenig persönlich, mit wie wenig Vorstellungskraft und Phantasie ich sie angehört und gelesen hatte. Dennoch klang mir Demians neuer Gedanke fatal und drohte Begriffe in mir umzuwerfen, auf deren Bestehenbleiben ich glaubte halten zu müssen. Nein, so konnte man doch nicht mit allem und jedem umspringen, auch mit dem Heiligsten.
    Er merkte meinen Widerstand, wie immer, sofort, noch ehe ich irgend etwas sagte.
    »Ich weiß schon«, sagte er resigniert, »es ist die alte Geschichte. Nur nicht Ernst machen! Aber ich will dir etwas sagen –: hier ist einer von den Punkten, wo man den Mangel in dieser Religion sehr deutlich sehen kann. Es handelt sich darum, daß dieser ganze Gott, alten und neuen Bundes, zwar eine ausgezeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich vorstellen soll. Er ist das Gute, das Edle, das Väterliche, das Schöne und auch Hohe, das Sentimentale – ganz recht! Aber die Welt besteht auch aus anderem. Und das wird nun alles einfach dem Teufel zugeschrieben, und dieser ganze Teil der Welt, diese ganze Hälfte wird unterschlagen und totgeschwiegen. Gerade wie sie Gott als Vater alles Lebens rühmen, aber das ganze Geschlechtsleben, auf dem das Leben doch beruht, einfach totschweigen und womöglich für Teufelszeug und sündlich erklären! Ich habe nichts dagegen, daß man diesen Gott Jehova verehrt, nicht das mindeste. Aber ich meine, wir sollen alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß

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