Den du nicht siehst
offenem Mund in das weiche Kissen. Wiederholte seine Worte, wieder und wieder. Der Rotz strömte. Er kniff die Augen so fest zusammen, dass er gruselige Gestalten sah, die durch die schwarze Weite jagten. Hinter seinen Augenlidern erschienen helle Masken, Schlangen mit riesigen Köpfen und schwankende Ungeheuer. Er lag auf der Seite, die Knie angezogen, und seine Arme umklammerten das Kissen. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Er wiegte sich hin und her. Das Kissen war nass von seinen Tränen.
Es war vier Uhr nachmittags. Seine Schwester war im Reitstall, und seine Eltern würden erst gegen sechs nach Hause kommen.
An diesem Tag war es besonders schrecklich gewesen. Sie hatten ihn auf dem Heimweg vor der Schule erwischt. Er war eigentlich fast ein bisschen fröhlich gewesen. Das erste Mal seit so langer Zeit, dass er dieses Gefühl beinahe vergessen hatte. Vielleicht würde es nun endlich ein wenig besser. Er war den ganzen Tag von gemeinen Sprüchen und Schikanen verschont geblieben, und in der Pause hatte ein Junge aus einer anderen Klasse mit ihm geredet. Sie hatten verabredet, am nächsten Tag ihre Hockeybilder mitzubringen. Aber als er wie immer nach der letzten Stunde davongestürzt war und über den Schulhof rannte, standen sie da, die Verhassten.
Sie versperrten ihm den Weg. Er versuchte zu fliehen. Sie waren schneller. Sie packten ihn und zogen in die Treppe zur Turnhalle hinunter. Im Eingangsbereich gab es eine Abstellkammer, die niemand benutzte. Sie zogen ihn hinein. Er war vor Panik wie gelähmt. Harte, trockene, unerbittliche Hände hielten ihm den Mund zu. Tränen rannen über seine Wangen. Sie drückten seine Arme auf den Rücken, stießen ihn. Sie kniffen ihn am ganzen Leib und traten und kratzten. Es wurde immer schlimmer. Als eine von ihnen dann auch noch seine Hose herunterzog, glaubte er, sterben zu müssen. Starke Arme packten ihn und zwangen ihn auf alle viere.
Sie schlugen ihm mit einem Springseil auf den Hintern. Es waren harte, energische Hiebe. Sie wechselten sich ab. Alle wollten schlagen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, an etwas anderes zu denken. Sonne, Baden, Softeis. Angeltouren mit dem Großvater. Sie ließen nicht von ihm ab, beschimpften ihn. Ihre Stimmen troffen vor Verachtung. Widerling, Fettsack, Dickwurst, Schwein.
Er bekam kaum Luft. Der Druck auf seinen Mund war so stark, dass er keuchte. Er gab einen stummen Schrei von sich, der ihn für den Rest seines Lebens begleiten würde.
Plötzlich spürte er, wie etwas Heißes an seinen Beinen hinunterlief.
»O pfui, wie ekelhaft, der bepisst sich ja « , sagte eine.
» Weg hier « , befahl eine andere. Die Schläge hörten auf, sie ließen ihn los und liefen die Treppe hoch. Er sank auf dem Betonboden zusammen. Er wusste nicht, wie lange er dort lag. Irgendwann konnte er endlich aufstehen, seine Kleider zusammensuchen, sich anziehen und nach draußen gehen. Zu Hause lief er in sein Zimmer. Schloss die Tür ab.
Rollte sich im Bett zusammen. Weinte und schrie. Sein Hintern tat weh und blutete. Sie schlugen ihn nie ins Gesicht. Bestimmt wollten sie nicht, dass jemand etwas sehen könnte. Inmitten seiner Verzweiflung schämte er sich jedoch auch. Was musste er für eine Missgeburt sein, dass ihm das alles passierte. Er wagte nicht, sich irgendwem anzuvertrauen.
» Mama! « , schrie er in sein Kissen. » Mama! « Zugleich wusste er, dass sie wie immer sein würde, wenn sie nach Hause kam. Und bis dahin würde er die Tränen getrocknet und sein Gesicht gewaschen haben. Außerdem würde er mehrere Gläser Wasser trinken, um sich zu beruhigen. Wie so oft würde sie nichts merken. Und deshalb hasste er sie.
Die Pressekonferenz fand wieder im größten Saal statt, den das Polizeigebäude von Visby besaß. Der Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt. Inzwischen interessierten sich auch die Medien aus den Nachbarländern für diesen mysteriösen Serienmörder, der die schwedische Polizei an der Nase herumführte.
Kommissar Knutas bat die Presse ausdrücklich, die Identität des Opfers noch nicht bekannt zu geben. Bisher waren nicht alle Angehörigen informiert. Die Polizei hatte den Bruder nicht erreichen können, denn der war an der schwedischen Westküste segeln.
Der Asthma-Inhalator wurde nicht erwähnt.
Knutas hatte noch nie so unter Stress gestanden. Und er war wütend, weil er um sein Mittsommerfest gebracht worden war. Wütend, weil ein weiterer Mord geschehen war. Wütend, weil sie
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