Den du nicht siehst
zurückgezogen war. Nur Emma und Helena besuchten in der Oberstufe weiterhin dieselbe Klasse. Für die Mädchen hatten die Quälereien keine Bedeutung gehabt. Nach dem Sommer hatte Emma sie jedenfalls vergessen.
Bei ihm aber war das offenbar nicht der Fall gewesen.
Ihre Hände zitterten, als sie im Jahrbuch weiterblätterte. Zwei Seiten. Klasse 6 C. Sie suchte unter den Gesichtern. Da war er. Das fünfte Bild von links.
Das blasse, ernste Gesicht war rund und wies die Andeutung eines Doppelkinns auf. Kurze, zerzauste Haare. Er war es. Er war der gemeinsame Nenner.
Die Übelkeit überkam sie mit voller Kraft. Ihr blieb keine Zeit, zu reagieren. Sie erbrach sich heftig auf den Boden.
In diesem Moment schellte das Telefon. Das Klingeln hallte hartnäckig im Haus wider.
Anstatt abzuheben, ging sie ins Badezimmer, um sich den Mund auszuspülen. Vor Angst hatte sie weiche Knie. Er hatte sie alle umgebracht, eine nach der anderen. Nur Emma noch nicht.
Wieder klingelte das Telefon. Sie stolperte die Treppe hinunter.
Es war Johan, dem sie die Nummer ihrer Eltern gegeben hatte.
»Hallo, ich bin’s. Ich war doch früher fertig. Ich fahre gleich los.«
Emma brachte kein Wort heraus.
»Was ist los? Was ist los mit dir?«
Sie ließ sich mit dem Telefon zu Boden sinken. Presste die Worte heiser aus sich heraus.
»Ich hab den Zusammenhang zwischen den Opfern gefunden. Alle sind gemeinsam in die sechste Klasse gegangen. In meine Klasse … Wir waren eine Mädchenbande und haben einen Jungen aus der Parallelklasse gequält. Bestimmt ist er der Mörder. Wir haben ihm einmal seine Unterhose in den Mund gestopft. So, wie er es mit den anderen gemacht hat. Er hat alle umgebracht, nur mich noch nicht. Verstehst du? Ich komme als Nächste an die Reihe. Was, wenn er jetzt hier ist? Vielleicht übertreibe ich ja, aber auf dem letzten Stück hierher zum Haus ist mir ein Auto gefolgt. Dann hat es einfach gewendet. Am Steuer saß ein Mann.«
»Was war das für ein Auto?«
»Ein alter Saab. Ich glaube, er war rot und …«
Weiter kam sie nicht. Die Verbindung riss ab.
Er stand unter der Dusche und wollte gerade das Shampoo mit kaltem Wasser aus dem Haar spülen, als sein Mobiltelefon klingelte. Knutas hatte eine Pause eingelegt und war zum Essen nach Hause gefahren. Er wollte kalt duschen, um Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Da klopfte Line energisch an die Badezimmertür.
»Anders, Anders, komm raus. Ein Anruf für dich. Es eilt!«
Er drehte den Wasserhahn zu, riss die Tür auf und griff nach dem Mobiltelefon, das Line ihm hinhielt. Sie holte ein Badetuch und half ihm beim Abtrocknen, während er telefonierte. Knutas hörte eine aufgeregte Stimme.
»Hier ist Johan Berg von den Regionalnachrichten. Schickt Wagen und Leute nach Fårö. Sofort. Emma Winarve hält sich allein im Haus ihrer Eltern auf und glaubt, dass der Mörder es auf sie abgesehen hat. Sie hat die Verbindung zwischen den Opfern gefunden. Sie sind als Mädchen mit Emma zusammen in eine Klasse gegangen. Die vier haben einen Jungen aus der Parallelklasse gequält. Er hat sie alle umgebracht. Alle außer Emma.«
»Was sagen Sie da, zum Teufel?«
»Emma ist sicher, dass der Junge von damals der Mörder ist. Sie haben ihm einmal seine Unterhose in den Mund gestopft.«
»Wie heißt er?«
»Das weiß ich nicht. Das konnte sie mir nicht mehr sagen. Die Verbindung ist abgerissen. Aber sie glaubt, dass er jetzt dort ist. Als sie zum Haus gefahren ist, ist ihr ein Auto gefolgt und dann verschwunden. Es war ein alter Saab. Er war rot. Ihr müsst hinfahren! Ich bin auch schon unterwegs.«
»Wo auf Fårö?«
Johan las die Wegbeschreibung vor, die er von Emma erhalten hatte.
»Man fährt an Ekeviken und der Abzweigung nach Skär vorbei. Dann erreicht man eine Eisbude, die nicht mehr in Betrieb ist. Dort biegt man nach links in den Waldweg zum Meer ein. Am Ende dieses Weges liegt das Haus.«
»Warten Sie auf uns«, sagte Knutas mit ruhiger Stimme. »Fahren Sie nicht voraus.«
»Zum Teufel. Macht, dass ihr hinkommt, und zwar schnell!« Johan legte auf.
Knutas wählte die Nummer des Präsidiums.
»Schickt drei Wagen nach Fårö. Sofort! Vermutlich hält unser Frauenmörder sich dort auf. Sagt den Kollegen in Fårösund, sie sollen nach Norsta Auren fahren. Nehmt Waffen und kugelsichere Westen mit. Der Verdächtige fährt vermutlich einen roten Saab älteren Baujahrs. Sie sollen losfahren, ich melde mich nachher mit neuen Instruktionen. Und
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