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Den du nicht siehst

Den du nicht siehst

Titel: Den du nicht siehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mari Jungstedt
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Blick wanderte über die Buchrücken. Kinderkrimis von Carolyn Keene, Fünf Freunde, Suchkind 312, Pferdebücher über Britta und Silber, Gulla, bleib bei uns und die alten Mädchenbücher der Mutter. Emma zog eins aus dem Regal und kicherte über Sprache und Titelbild. Der Umschlag zeigte eine junge, schlanke Frau mit roten Lippen und Kopftuch, die gerade in einen Sportwagen sprang, an dessen Steuer ein dunkelhaariger Doppelgänger von Ken saß. Liebe mit Hindernissen lautete der verheißungsvolle Titel.
    Könnte auf mich zutreffen, überlegte sie trocken.
    Sie fand auch einen Stapel zerlesener Starlets und Wahre Geschichten. Emma lächelte bei der Erinnerung, wie sie und ihre Schwester die Hefte verschlungen und über die ergreifenden Schicksale diskutiert hatten, mit denen diese jungen Mädchen fertig werden mussten. In einem anderen Regalfach standen mehrere alte Fotoalben. Lange vertiefte sie sich in Bilder aus ihrer Kindheit und Jugend. Geburtstagsfeiern, Reitlager, Schulfeste. Mit Freundinnen am Strand, auf einem Grillfest an einem Sommerabend und mit Eltern und Schwester im Vergnügungspark Gröna Lund in Stockholm. Auf vielen Bildern war auch Helena dabei.
    Da waren sie: zwei magere Elfjährige am Strand, zwei Dreizehnjährige mit viel zu dickem Lidstrich beim Klassenfest und ordentlich und adrett im Schulchor. Fröhliche Reiterinnen in der Reitstunde, ganz in Weiß als Konfirmandinnen und strahlend und damenhaft im langen Kleid beim Abiturball. ihr Blick fiel auf einen Stapel alter Schuljahrbücher. Sie zog eins hervor und suchte ihre und Helenas Klasse.
    Darüber stand Klasse 6 A. Dann folgten Fotos der Schule, des Rektors, der Klassenlehrerin. Und der Kinder, jedes mit Namen versehen. Wie klein wir damals waren, dachte sie. Manche kindlich mit runden, rosigen Wangen. Andere bleich mit verhärmtem Aussehen. Manche hatten schon die ersten Aknenarben, einige Mädchen waren geschminkt, bei einigen Jungen war auf der Oberlippe ein Bartflaum zu ahnen. Sie sah sich selbst, ganz unten auf der Seite. Und Helena. Hübsch und dunkel, mit langen Haaren, die ihr halbes Gesicht verdeckten. Sie guckte mit ernstem Blick in die Kamera.
    Emma schaute sich sämtliche Fotos an, eins nach dem anderen. Ewa Ahlberg, Fredrik Andersson, Gunilla Broström. Ihre Augen blieben bei dem blonden Mädchen mit dem Schal hängen, das unter ihrem langen Pony in die Kamera blickte.
    Gunilla Broström. Das Gesicht hatte sie doch gerade noch gesehen. Die Frau aus der Zeitung. Die ermordete Gunilla. Emma stürzte hinunter in die Küche und holte die Abendzeitungen. Ja, sie war es. Damals war sie blond, aber das Gesicht war dasselbe. Sie hatte Gunilla vergessen, sie waren keine besonders engen Freundinnen gewesen.
    Gunilla und Helena waren also demselben Mörder zum Opfer gefallen.
    Und als ihr in der gleichen Sekunde aufging, was die beiden verband, fühlte sie sich, als hätte ihr jemand einen heftigen Schlag in die Magengrube versetzt.
    Anni, wo war Anni-Frid? Das war sicher Frida … Es konnte nicht wahr sein! Emmas Blick jagte über die Gesichter … Warum war Anni nicht dabei? Gott, richtig, die war ja erst im Frühling in die Klasse gekommen. Aus Stockholm. Und auch bald wieder zurückgezogen. Wir haben sie Anni genannt, obwohl sie Anni-Frid hieß, dachte Emma. Bestimmt war das diese Frida, da war sie sich sicher.
    Alle drei in einer Klasse. Ermordet. Jetzt war nur noch Emma übrig.
     
    Die Mädchen, die sich so toll dabei vorkamen, andere zu schikanieren, waren eigentlich keine Freundinnen gewesen. Emma und Helena waren zwar unzertrennlich, und die eigenbrötlerische Gunilla hatte sich der neu dazugekommenen Anni angeschlossen. Aber aus irgendeinem Grund hatten gerade diese vier sich zusammengetan und den Jungen gequält. Manchmal ließen sie ihn eine Zeit lang in Ruhe; es konnte sich sogar um Wochen handeln. Alles fing recht harmlos an, mit blöden Sprüchen und kleinen Rempeleien. Dann wurde es immer ärger. Sie hatten sich gegenseitig angestachelt. Alle hatten mitgemacht, aber im Grunde war Helena die treibende Kraft. Das war eigentlich ihre einzige Gemeinsamkeit. Ihre Gemeinheit. Vielleicht hatten Gunilla und Anni gehofft, so mit Emma und Helena Freundschaft zu schließen, denn die beiden zählten zu den beliebten Mädchen der Schule. Vielleicht hatten sie auf diese Weise dazugehören wollen.
    Aber daraus wurde nichts. Die Sommerferien brachen an, und sie verloren den Kontakt. Anni sahen sie nie wieder, weil sie nach Stockholm

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