Den ersten Stein
eine riesige Menschenmenge vor ihnen. Eine gigantische Filmleinwand
zeigte Fotos von ehemaligen Houstoner Wahrzeichen: das San Jacinto Monument, die City Hall und die Hartmann Bridge. Das Denkmal
Sam Houstons war so fotografiert worden, dass sein Finger auf das Publikum zeigte.
So wollte das Land sich an die Stadt erinnern. Die Wahrheit war schlimmer, als die meisten ertragen konnten. Das Stadtzentrum
von Houston war in den Himmel gerissen worden und hatte einen Krater aus Schutt und geschmolzenem Stahl hinter sich zurückgelassen.
Der Atompilz hatte stundenlang in der unbewegten Luft gehangen, der Engel des Todes hatte sein Werk inspiziert, bevor der
Wind ihn auf der Suche nach neuen Opfern über das ganze Land geblasen hatte. Männerin Raumanzügen suchten die Trümmer nach Hinweisen und Überresten ab. Ich hatte von einer Armeekantine in Deutschland aus zugeschaut,
während Dutzende von Nachrichtensprechern sich abmühten, die Verwüstung zu beschreiben, ohne das Wort zu verwenden, das ihnen
auf der Zunge lag: Hiroshima.
Ich fragte mich, ob eine ähnliche Gedenkzeremonie auch im Iran abgehalten worden war, ob ein Ayatollah eine Rede an die in
den Bergen und in Flüchtlingslagern zerstreuten Menschen seines Volkes gehalten hatte. Hinter ihm wären dann Aufnahmen von
Teheraner Wahrzeichen zu sehen gewesen. Wie wir hätten die Iraner die Stadt so gezeigt, wie sie sich an sie erinnern wollten:
Alle achttausend Marmorblöcke des Azadi-Turms wären an Ort und Stelle, eine Skyline unversehrter Gebäude und Minarette würde
in den Himmel aufragen und die Straßen wären nicht mit Granatsplittern und nicht explodierten Streubomben übersät. Im Gegensatz
zu Houston stand die Stadt an sich noch. Die Waffe hatte Beton und Stahl intakt gelassen und stattdessen die Menschen getroffen,
die die Stadt ihr Zuhause genannt hatten, hatte sie schnell getötet oder langsam verstrahlt.
Es würden keine Menschen zu sehen sein, damit nicht jemand einen von denen erkannte, die verschwunden oder dem Tod überlassen
worden waren. Die als Teheran bekannte Metropole war in einem einzigen, entsetzlichen Lichtblitz zur Geisterstadt geworden.
Die Iraner hatten immer abgestritten, irgendetwas mit Houston zu tun zu haben, und zwei Jahre später sagten wir dasselbe über
Teheran. Zwei Städte waren in Schutt und Asche versunken, und keiner war deswegen zur Rechenschaft gezogen worden. Wenn die
Iraner nicht anders waren als andere Menschen, wussten sie so wenig von unseren Toten wie wir von den ihren.
Ich trat zum Empfangstresen – der aussah wie eine Archeund so groß war, dass man darauf zur See hätte fahren können – und wurde vom kühlen Blick der Streitaxt dahinter begrüßt.
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein, Ma’am.« Ich hatte einen Kentucky-Akzent eingeübt, bevor ich eingetreten war. »Schaun Sie, ich hab was gesehn, und …«
»Sie wollen Zeugnis ablegen?«
»Ja, Ma’am.«
»Schwester Cecily«, sagte die Frau über meine Schulter hinweg.
Ich drehte mich um und sah eine junge Frau mit einem Becher Kaffee in der Hand, die von einer Bank beim Bethlehem-Baum aufblickte.
»Sind Sie frei?« Die Empfangsdame wartete die Antwort nicht ab. »Bringen Sie diesen Herrn in die Zeugenabteilung.«
Ich sah, wie der Blick der jungen Frau über die verschiedenen Erkennungszeichen hüpfte, die ich mir an den Anzug gesteckt
hatte. Die amerikanische Flagge auf meinem linken Kragenaufschlag war praktisch obligatorisch, wenn man nur über die Straße
gehen wollte. Was mich vom Durchschnittsbürger unterschied, war das christliche Fischzeichen auf dem rechten Revers und die
Krawatte einer christlichen Universität. Sie stand auf, schenkte mir ein strahlendes Lächeln und zeigte mir den Lift.
»Ich bin Frank Przowski«, sagte ich.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr …« Sie stockte.
Ich wählte meine falschen Namen gern so, dass sie im Zeugenstand unaussprechlich und auf Beschwerdeformularen nicht zu buchstabieren
waren. »Nennen Sie mich Frank.«
»Cecily Turner.«
Wir schüttelten uns die Hände. Der Lift hielt und entließ seine Fracht von Männern in Zweireihern und Frauen inzüchtig knöchellangen Kleidern. Keine von ihnen war einheimisch, wie sie sofort erklären würden, wenn man ihnen mehr als zwei
Worte Zeit ließ. Sie waren wahre Gläubige aus den ländlichen Regionen des Sun Belts und der Südstaaten, aus den verrosteten
Städten des mittleren Westens und den alten
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