Den ersten Stein
tun.«
»Wenn Sie eine bessere Spur haben, warte ich mit angehaltenem Atem.«
Ich antwortete nicht.
»Wenn meine Leute Sie dort sehen, werden sie sich zurückziehen. Ich sage ihnen, dass sie Sie bald erwarten können.«
Die Apotheke des alten Song befand sich im Untergeschoss eines Wohnhauses in der Mulberry Street unmittelbar südlich der Canal
Street. Der ganze Laden bestand aus einem einzigen Raum, der weit größer war, als man von außen für möglich gehalten hätte.
Song stand hinter der Theke und unterhielt sich kaum lauter als im Flüsterton auf Kantonesisch mit einer alten Frau. Die Wand
hinter ihm wurde vollständig von Reihen von Holzschubladen eingenommen, deren Inhalt auf Chinesisch gekennzeichnet war. Andere
Einrichtungsgegenstände befanden sich nicht in dem Raum, wegen irgendwelcher Feng-Shui-Prinzipien oder weil der Laden billig
war.
Medizinische Schautafeln auf der gegenüberliegenden Wand zeigten die Meridiane der chinesischen Heilkunde, Kanäle, in denen
nicht Blut, sondern Chi durch den Körper zirkulierte. Wenn man bestimmte Punkte auf den Meridianen durch Akupunktur stimulierte,
konnte das die Gesundheit fördern und Krankheiten heilen. Wenn man auf dieselben Punkte schlug, betäubte das Gliedmaßen, beschädigte
Nerven und brachte sogar das Herz zum Stillstand. Ich war zwar nicht vollständig von den Heilkräften der chinesischen Medizin
überzeugt, doch ich hatte Erfahrungen aus erster Hand, wenn es darumging, mit Hilfe der Akupunkturpunkte jemandes Hang zur Gewalt zu dämpfen.
Songs Apotheke war das Gegenteil der neuen Läden, die in der Mott Street aufgemacht hatten. Dort fand man automatische Glasschiebetüren,
aseptische Deckenstrahler und Verkäufer in weißen Kitteln. Es herrschte eine angemessen klinische Atmosphäre, um den westlich
geprägten Kunden zu beruhigen, der nach einer billigeren Alternative zur maßlos teuren konventionellen Medizin suchte. Die
Kunden wollten Zaubertränke, die sie schlanker, faltenfreier und erfolgreicher machten; das gleiche Sortiment menschlicher
Eitelkeiten, dem man schon seit den Tagen der Pharaonen nachjagte. Ein langes Leben war im Vergleich dazu zweitrangig.
Als die alte Frau gegangen war, sah Song mich an und streckte die Hand aus. Ich legte den Arm mit der Unterseite nach oben
auf die Theke. Er legte mir die Finger aufs Handgelenk und lauschte mit geschlossenen Augen. Nach einer Weile ließ er meinen
Arm los. Er zog eine kleine Trittleiter in den hinteren Bereich des Ladens und holte eine große Flasche aus einer Schublade
ganz oben. Ich spielte ein Spiel mit mir selbst, mit dem ich bei meinem ersten Besuch hier angefangen hatte: Songs Alter erraten.
Die Hinweise waren widersprüchlich. Sein kahler Kopf war tief gefurcht wie ein frisch gepflügtes Feld und er trug eine große,
starke Bifokalbrille, die die Aufmerksamkeit auf seine Augen lenkte. Andererseits bereitete es ihm keine Mühe, die Leiter
umzustellen oder sie trittsicher hinaufzusteigen. Er war klein, aber nicht gebeugt. Seine Hände waren so ruhig wie die eines
Chirurgen, und er hatte eine sonderbar vitale Ausstrahlung.
Aus der großen Flasche füllte er etwas in eine kleine Tropfenflasche ab. »Drei Tropfen in den Tee, zweimal täglich«, sagte
er, wie er es schon Dutzende Male zuvor getan hatte. Er hielt das Fläschchen hoch, und in der bräunlichen Flüssigkeitfing sich das bisschen Tageslicht, das den Weg von der Straße hierher fand.
»Danke, Song«, sagte ich, doch er reichte mir das Fläschchen nicht. Stattdessen musterte er mich durch seine Bifokalbrille.
»Sie führen ein Leben extremer Unruhe«, sagte er.
Ich war überrascht. So viel hatte Song in dem halben Jahr, seit ich zu ihm kam, noch nie mit mir geredet.
»Vielleicht sollten Sie an einen ruhigeren Ort ziehen.«
»An ruhigeren Orten braucht man Menschen wie mich nicht«, gab ich zurück. Man muss schließlich arbeiten, um sein täglich Brot
zu verdienen und sich teure Medikamente auf dem Schwarzmarkt leisten zu können.
Song nickte traurig und reichte mir das Fläschchen. Er drehte sich zu seinen Schubladen um und rührte sich nicht, als ich
das Geld auf die Theke legte und die Ladentür öffnete.
Der tote Briefkasten lag um die Ecke in der Canal Street. Er befand sich in der Nähe einer Buchstabensuppe aus U-Bahn -Linien: den Linien A und C, die durch die Upper West Side nach Norden und südwärts durch Downtown und übers Wasser führten,
und den Linien
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