Den ersten Stein
der Straße, den ich
nicht sehen konnte. Ein paar Sekundenspäter erblickte ich ihren Schuh: schwarz und hochhackig mit weißen Effektstreifen. Er gehörte zu einem Bein, das in einem
Windkanal entworfen und dann in schwarze Seide gehüllt worden war. Es schien überhaupt nicht mehr aufzuhören, bis es schließlich
im unbekannten Terrain unter ihrem beigen Regenmantel verschwand, der an der Taille eng gegürtet und so geschnitten war, dass
er den Konturen seiner Besitzerin perfekt folgte. Ihr Haar war lang, gewellt und so dunkel wie ihre Strümpfe. Es wurde von
einer Haarspange aus Jade aus dem Gesicht gehalten, die bei jedem Schritt hüpfte. Da ich mich seitlich von ihr befand, konnte
ich ihr Gesicht nicht sehen, das außerdem zum größten Teil hinter einer Sonnenbrille und ihrem hochgeklappten Mantelkragen
verborgen war. Das Interesse der Passanten war jetzt klar: Die Männer schauten aus den üblichen Gründen und die Frauen, weil
sie wissen wollten, was sie falsch machten.
Sie ging zielstrebig, aber ohne Eile. Hippe Lower East Side Kids und Matronen, die den Wocheneinkauf schleppten, machten ihr
unbewusst Platz, so dass sie schnell vorankam. Als sie den Laternenpfahl passierte, fuhr eine ihrer behandschuhten Hände raubvogelgleich
in den Hohlraum im Inneren. Ein sonderbarer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, dann kehrte ihre Hand wieder in die Manteltasche
zurück und ihre Miene war erneut unbewegt. Es ging alles so schnell, dass es mir entgangen wäre, wenn ich im falschen Moment
geblinzelt hätte. Genau das musste wohl den Rollern unten passiert sein, denn sie rührten sich nicht. Es war mein Glück, dass
sie, wie sich herausstellte, diejenige war, die ich suchte, da ich schon seit fünf Minuten sonst niemanden mehr beobachtet
hatte.
Ich warf etwas von meinem schwindenden Vermögen auf das Papiertischtuch und sprang zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe
hinunter. Als ich nach draußen kam, überquerte sie schon die Bowery. Die Rollers starrten noch immerden Laternenpfahl an. Ich schob mich vor eine große Familie, die den Bürgersteig für sich beanspruchte. Die schirmte mich
bis zur nächsten Kreuzung vor den Blicken von Whites Agenten ab. Mit einer weiteren großen Passantenschar eilte ich über die
Straße. Die Frau war noch immer einen halben Straßenzug vor mir zu sehen. Sie bog nach rechts in die Hester Street ab und
verschwand dann in einer schmalen Gasse. Ich warf einen Blick hinein und entdeckte ein Internet-Café, das in einer der Erdgeschosswohnungen
eingerichtet war. Als sie die Tür aufmachte, erhaschte ich einen Blick auf einen fetten Kerl im Jogginganzug, der hinter einem
Tresen saß und die erste Reihe der auf klapprigen Tischen stehenden Computer bewachte. Die Wände waren nackt und fleckig,
und der graue Teppich war seit der Nixonregierung nicht mehr gereinigt worden. Man nannte solche Orte »Löcher«, und nicht
nur wegen der Ausstattung.
Seit unserer Invasion im Irak waren Spionagedienste der Regierung mit der Überwachung der amerikanischen Telekommunikation
beschäftigt. Auf der Suche nach Mustern, die den nächsten Terroranschlag verrieten, klapperte die National Security Agency
Telefonverbindungen und das Internet ab. Irgendeinem hellen Köpfchen in der zur Erweckungsbewegung gehörenden Regierung war
aufgefallen, dass diese Data-Mining-Programme auch zur Jagd auf »Spirituelle Terroristen« verwendet werden konnten. Das Komitee
für Kinderschutz hatte das Recht, seine Kinderschutz-Software auf den Servern jedes Internet-Providers der USA zu installieren.
Nach verschiedenen Fusionen wurden fast alle Internetzugänge Amerikas von nur noch drei Unternehmen angeboten, die Einrichtung
war also nicht allzu schwierig gewesen. Jetzt konnten die Holy Rollers jeden überwachen, der etwas betrachtete, wogegen sie
Einwände hatten, da ja zufällig ein Kind vorbeikommen und es sehen konnte.
Jeder Achtjährige konnte die Pornographie-Sperren umgehen. Alle wussten das, aber wie die anderen Unzuchtsgesetze hielt das
Verbot Schmuddelkram aus dem Fernsehen und von den Reklametafeln fern und man konnte so tun, als ob so etwas gar nicht existierte.
Die illegale Verschlüsselung auf dem US B-Stick , den White mir gezeigt hatte, war da etwas ganz anderes. Wenn man diese Daten per E-Mail verschickte, würden bei einem unter dem halben Dutzend Geheimdienste, die das Internet um die Wette überwachten, die Alarmglocken
läuten. Man würde
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