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Den ersten Stein

Den ersten Stein

Titel: Den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elliott Hall
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die Gelegenheit riechen, vor dem Haushaltsausschuss gut dazustehen, und sich jeden zur Brust nehmen, den
     man in die Finger bekam. Das war wahrscheinlich der Grund, aus dem die Frau und ihr Auftraggeber überhaupt mit diesem Laternenpfahl
     herumspielten.
    Sobald das Kinderschutzprogramm online war, war ein lukrativer Markt entstanden. Amateure stellten Satellitenverbindungen
     her, während das organisierte Verbrechen einfach nur einen Techniker suchte, der seine Ersparnisse gerne ein bisschen aufbessern
     wollte. Beide Gruppen machten Löcher wie dieses hier auf, wo jeder, der Wert auf Diskretion und Anonymität legte, vor neugierigen
     Blicken geschützt Zugang zu fremden Sites fand.
    Ich beobachtete die Gasse in einem Schaufenster auf der Straßenseite gegenüber, wobei ich so tat, als musterte ich das moderne
     Billigimitat einer Art-déco-Lampe. Als die Frau wieder aus der Gasse herauskam, wirkte ihr Schritt erregter. Sie ging zu einer
     Telefonsäule an der Straßenecke und wählte ein paar Telefonnummern. Ihr Mund bewegte sich nie, es nahm also keiner ab, oder
     sie wollte nur zuhören. Was immer sie da hörte, es gefiel ihr nicht. Sie knallte den Hörer auf und ging nach Chinatown zurück.
    Die Frau hatte anscheinend beschlossen, einen Rundgang mit mir zu machen. Sie folgte einer Weile der Mott Street, bogdann in die Broome Street ein, ging die Mulberry Street entlang, bog rechts in die Grand Street ein und marschierte von dort
     aus in die Baxter Street. Gelegentlich trat sie in einen der Läden, in denen jeder Plastikartikel verkauft wurde, der je von
     der Menschheit produziert worden war, und zwar in solchen Mengen, dass Sandalen und billiges Spielzeug auf die Straße hinausquollen.
     In schmalen Gängen, in denen Hausfrauen mit spitzen Ellbogen nach Schnäppchen jagten, wurden Gewürze, Besteck, Frühlingsrollen,
     Plastik-Katanaschwerter, Ginseng, Matten, Bademäntel und China-Kitsch feilgeboten. Ich wollte nicht riskieren, hineinzugehen
     und die Frau zu verlieren, also stand ich an einen Laternenpfahl gelehnt da, bis sie mit leeren Händen wieder herauskam.
    Wir nahmen die nächste Runde in Angriff. Eine Shoppingtour konnte es nicht sein, dafür ging sie zu willkürlich kreuz und quer,
     und dabei schritt sie so rasch und energisch aus, dass sie sich offensichtlich auch nicht die Gegend anschaute. Manchmal drehte
     sie sich plötzlich um und ging zurück. Ich huschte dann in einen Elektronikladen, der mit Postern von Hongkong-Stars tapeziert
     war, oder blieb vor einem Restaurant stehen und starrte Tierteile an, die im Fenster hingen. Das Gedränge hielt sie von mir
     fern und machte es mir leicht, ihr zu folgen, wenn sie wieder weit genug weg war. Ich hatte nach den Rollers Ausschau gehalten,
     aber die waren noch immer nirgends zu sehen. Vielleicht hatte White sein Wort jetzt mit Verspätung doch noch gehalten, oder
     die beiden Trottel starrten noch immer den Laternenpfahl an und warteten darauf, dass etwas geschah.
    In der Grand Street machte die Frau ein weiteres Mal plötzlich kehrt. Diesmal steckte ich in Schwierigkeiten. Ich hatte eine
     Gruppe deutscher Touristen als Deckung benutzt. Genau als die Frau sich umdrehte, blieb die Gruppe stehen, um billige Jadefigürchen
     zu betrachten, die in einem Schaufensterausgestellt waren. Ich konnte mich nicht aus ihrem Kreis lösen, ohne aufzufallen. So blieb mir keine andere Wahl, als die
     Frau direkt an mir vorbeigehen zu lassen, nur noch durch einen kleinen deutschen Jungen von ihr getrennt, der als Souvenir
     einen Freiheitsstatuenhut trug. Ich ließ die Augen kurz über sie gleiten, da es verdächtig, ja geradezu verrückt gewesen wäre,
     als Mann an ihr vorbeizugehen und sich die Gelegenheit, sie anzusehen, entgehen zu lassen. Ihre Haut war blass und rein, mit
     sehr wenig Make-up. Ihr Kinn war ausgeprägt und beinahe spitz. Die gewisse Härte, die es ihrem Gesicht verlieh, wurde durch
     die Sonnenbrille, die ihre Augen verbarg, noch unterstrichen. Als wir aneinander vorbeigingen, sahen wir uns aus den Augenwinkeln
     an. Ihre Augen waren blassgrau und rot geweint, noch immer drohten Tränen daraus hervorzubrechen. Die Wolken von gebratenem
     Fleischdunst, Abfallgestank und teutonischem Schweiß teilten sich lange genug, dass ich einen Hauch ihres Parfüms erhaschen
     konnte, einen moschusartigen, fremden Duft. Chinesische Schriftzeichen sahen amüsiert zu – sie hockten wie bunte Vögel im
     Schildergewirr über uns.
    Schließlich setzte sie

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