Den ersten Stein

Mörserangriffe und fremden Länder jenseits des Stacheldrahtzauns waren wegretouchiert.
    Die Realität in Teheran war weniger fotogen gewesen. Im Labyrinth der Unternehmer und Subunternehmer, durch die das Pentagon
     seine Ausrüstung lieferte und transportierte, verschwand immer wieder lebenswichtiges Material. So gut wie keine echten Soldaten
     waren mit der Logistik betraut, und die Unternehmer, die uns beschaffen sollten, was wir brauchten, standen praktisch über
     dem Gesetz. Ich weiß nicht, ob es Betrug war oder einfach nur Unfähigkeit, aber das spielte keine Rolle, wenn es nicht genug
     Nachtsichtgläser für eine mitternächtliche Patrouille gab.
    Über das Heilige Land habe ich ähnliche Geschichten gehört. Veteranen erzählten von ungenießbarem Essen, von kaputten Geräten,
     die niemals repariert wurden, und von Gebäuden, die kurz vorm Zusammenbrechen standen. Außerhalb eines Kriegsgebiets war das
     einfach nur lästig, aber dort konnten Menschen durch so etwas sterben. Der Krieg war ein Geschäft wie jedes andere auch und
     die Regierung bekam, was sie bezahlte.
    Schon bei oberflächlicher Lektüre der Finanzzeitungen hätte man erfahren, dass Marcus Thorpe ein mächtiger, skrupelloser Mann
     war. Iris hatte noch mehrere zusätzliche Anschuldigungen hinzugefügt, aber im Moment hatte ich nichts als ihr Wort. Ich musste
     Thorpe selbst einschätzen und sehen, wozu er fähig war, wenn man die richtigen Knöpfe drückte. Iris hatte mich vielleicht
     belogen, absichtlich oder unabsichtlich. Bei einer wahren Gläubigen war die Realität immer nur eine Option.
    Marcus Thorpe war kein Mann, bei dem man einfach mal hereinschauen konnte. Nicht nur hatte er eine beeindruckend lange Liste
     von Feinden, seine Zeit war auch so wertvoll, dass er selbst den Gang zum Klo delegieren würde, wenn das möglich wäre. Einen
     Termin bei ihm zu erhalten, wäre schon unter den günstigsten Umständen schwierig geworden, und dazu kam noch, dass ich kein
     einziges wahres Wort über die Gründe meines Kommens sagen konnte.
    Ich hatte eine indirektere Herangehensweise an das Problem in Erwägung gezogen, aber das hier war kein Unternehmen, wo man
     mit einer gestohlenen Uniform und einem falschen Schnurrbart durch den Dienstboteneingang kam. Für jede der sechs Kameras,
     die die Lobby überwachten, lief ein Back-up. Auf den anderen Stockwerken würden Retina-Scanner, Bewegungsmelder und weitere
     wichtige Accessoires der modernen paranoiden Unternehmensfestung hinzukommen. Auch Söldner von Stillwater waren en masse vertreten;
     in den kugelsicheren Westen und mit ihren eng anliegenden Sonnenbrillen waren sie so allgegenwärtig wie die Gewehre, die sie
     trugen. Ein Gespräch mit Thorpe zu erzwingen, würde viel Zeit erfordern und Geld, das ich nicht hatte.
    Mein Freund bei der New Yorker Polizei hatte das Autokennzeichen von gestern Abend überprüft und war auf einen Wagen gestoßen,
     der ein paar Stunden zuvor in Brooklyn gestohlen worden war. Das Mautsystem hatte aufgezeichnet, dass das Fahrzeug etwa zwanzig
     Minuten später über die Brooklyn Bridge gefahren war. Alle Brücken und Tunnel wurden durch Kameras überwacht, vielleicht gab
     es also ein paar Aufnahmen von Ernest und seinem Fahrer. Falls die Qualität reichte, würde mein Freund die Bilder durch das
     Gesichtserkennungssystem der New Yorker Polizei laufen lassen. Das ganze würde wegen des Bürokratieaufwands eine Weile dauern,
     aber wenn ich erst einmal einen Namen hatte,würde ich sehen können, ob Ernest mit irgendeinem Mitglied meines Fanclubs in Beziehung stand.
    Die große, schwarz-weiße Uhr, die hoch oben an der Wand hing, tickte zwanzig Minuten vor sich hin. Dann ging einer der drei
     goldenen Lifts hinter der Empfangsdame auf, und ein Mann trat auf den glänzenden Boden hinaus. Er war etwas über eins siebzig,
     trug teure Schuhe und hatte den praktisch fettfreien Körper eines Weltergewichtlers. Sein Kopf war rasiert, nicht kahl, und
     die Goldbrille mit den runden Gläsern vor seinen chinesischen Augen wirkte kosmetisch. Die Hose seines dunkelblauen Serge-Anzugs
     saß wie maßgeschneidert, aber das Jackett hing locker über die Schultern, damit Platz für seine Waffen blieb. Männer wie er
     trugen immer mehr als eine Schusswaffe.
    Keines dieser Details war bemerkenswert, und auch der Mann wäre mir nicht weiter aufgefallen, hätte er still gestanden. Jede
     Bewegung begann in der Mitte seines Körpers und floss nach außen, wo sie seine