Den lass ich gleich an
am Fenster, der bereits Spuren eines Gelages zeigte. Essensreste aller Art bedeckten die Tischplatte, daneben warteten randvolle Teller. Fusselbart hatte das halbe Buffet gebunkert und nicht weniger als vier Gläser Wein dazu.
»Der kluge Mann baut vor«, sagte er. »Wein, Weib – fehlt nur noch der Gesang!«
Hölle, dachte Lulu. Hölle und Verdammnis. Wenn doch nur Alex hier wäre. Der würde Fusselbart mit einem einzigen stahlharten Blick erledigen. Im selben Augenblick erstarrte sie. Wohnte Alex vielleicht auch hier im Hotel? Was, wenn er sie hier mit Lotte sah? Es war noch zu früh für solche Enthüllungen!
Ganz klein machte sie sich und sah sich ängstlich um. Aber da waren nur rotgesichtige Familienväter, die stoisch Essensberge vor sich hertrugen und auch am Abend nicht auf den diskreten Charme ausgebeulter Jogginganzüge verzichteten.
Noch einmal checkte Lulu das Restaurant. Kein Alex weit und breit. Warum auch sollte sich ein Single-Mann freiwillig in dieses Familieninferno begeben? Bestimmt logierte er in einem stilvollen kleinen Hotel abseits der Touristenkästen. Morgen musste sie ihn unbedingt fragen, wo er abgestiegen war, nahm sie sich vor.
Lotte verschlang unterdessen im Rekordtempo einen Teller Nudelsalat. »Los doch, Mama«, schmatzte sie aufmunternd, »iss auch was.«
Aber Lulus Magen streikte. Deshalb also sagte man, Verliebtelebten nur von Luft und Liebe. Sogar auf die Luft hätte Lulu leichten Herzens verzichten können.
»Ich glaube, ich habe mir den Magen verdorben«, wehrte sie ab. »Hunger habe ich jedenfalls nicht. Aber ein Glas Wein wäre nicht schlecht.«
Fusselbart betrachtete sie fachmännisch. »So ging es bei meiner Frau auch los: Appetitlosigkeit, Unwohlgefühle, und dann kam das Erbrechen. Vorsicht mit dem Wein. Der übersäuert auf nüchternen Magen, da kenn ich mich aus. Ich bin nämlich Biologielehrer. Und was man hier kredenzt, bewegt sich zwischen Château Migräne und Schloss Nierentritt.«
Erwartungsvoll sah er Lulu an. Na, bin ich nicht ein begnadeter Entertainer? Willkommen im Club der Hirntoten, dachte Lulu. Jetzt versucht er sich auch noch als Comedian! Demonstrativ kippte sie das ganze Glas Wein hinunter.
»Wenn Ihnen schlecht wird, begleite ich Sie gern aufs Zimmer«, bot Fusselbart sich an.
Das könnte dir so passen, grollte Lulu. Erst machst du dich als Rettungssanitäter nützlich, und dann fällst du über mich her. Solche Männer gehören eingesperrt! Sie griff nach einem zweiten Weinglas, während sie sich vorsichtshalber noch einmal umsah. Von Alex keine Spur.
Lotte sprang auf. »Soll ich schon vorgehen?«, fragte sie. »Dann könnt ihr ganz in Ruhe reden.«
Lulu war wie vom Donner gerührt. Was war aus der anhänglichen, kleinen Lotte geworden, die nicht einmal eineneinzigen Abend mit ihrer Großmutter durchstand? Zum ersten Mal musste sie sich eingestehen, dass Lotte vielleicht ganz gut auf sich selbst aufpassen konnte, und diese Erkenntnis freute und ängstigte sie zugleich.
Sie hatte sich daran gewöhnt, dass sie immer für Lotte da war – nun entdeckte sie ein selbstbewusstes Mädchen, das sehr genau wusste, was es wollte. Hatte sie ihre Tochter unterschätzt?
»Großartig«, frohlockte Fusselbart. »Geh nur, ich werde deine Frau Mutter bestens unterhalten! So ein Vieraugengespräch bringt einen doch entschieden näher.«
»Sehr liebenswürdig, Herr Meyer mit Ypsilon«, sagte Lulu und stand auf. »Ich glaube, Ihre Frau sollte nicht länger auf Ihren Charme verzichten. Wir gehen jetzt tanzen!«
Mit offenem Mund starrte Fusselbart sie an. Dann klappte er den Mund wieder zu und kaute griesgrämig weiter. »Viel Vergnügen«, murmelte er enttäuscht.
Lotte hatte ihre Mutter schon an der Hand gefasst und zog sie aus dem Restaurant. Schon von weitem hörte man das ohrenbetäubende Kreischen einer tobenden Kinderschar. Lotte ließ Lulus Hand los und rannte in einen Saal, der sich an die Hotellobby anschloss. Buntfarbiges Discolicht kreiste durch den Raum und warf zuckende Reflexe auf etwa hundert Kinder, die hingebungsvoll hopsten. Auf der Bühne standen die Animateure des Juniorclubs und machten die Bewegungen vor: Arme hochreißen, in die Hockegehen, einmal drehen, in die Hände klatschen. Hundert Kinder machten es ihnen nach. Und einige Eltern auch.
Etwas unbehaglich stand Lulu da. Sie fühlte sich so verlassen wie ein Welpe, den man am Straßenrand ausgesetzt hatte. Und ertappte sich bei dem Gedanken, wie gern sie jetzt mit Alex auf einer
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