Den letzten beissen die WerWölfe
Daumen die Seiten passieren, es waren bestimmt über 150. Dann zündete er sich erneut eine Zigarre an, öffnete eine Flasche Rotwein und begann zu lesen …
***
20.55 Uhr
In Ruitzhof hatte leichter Regen eingesetzt. Charly Nusselein hörte schon zum zweiten Male »A Curious Thing« von Amy Macdonald, nicht unbedingt schottische Musik, aber das interessierte den von Reisefieber geplagten Journalisten an diesem Abend nicht. Er beschloss, am nächsten Tag auch keinerlei schottisches Accessoire zu tragen und erklärte dies seinem Kater, der es sich in einem Sessel gemütlich gemacht hatte.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, die Engländer schlagen immer noch Schotten tot.«
Der Kater spitzte lediglich ein Ohr. Da er kein Reizwort, wie zum Beispiel »Elster« oder »Katzenfutter« gehört hatte, schlief er langsam ein.
Nusselein kramte in Behältnissen und Schränken und stieß schließlich auf sechs verschiedene Wecker, die er im 5-Minuten-Rhythmus ab 6 Uhr stellte. Anschließend verteilte er alle im Wohnwagen: auf der Nachttischkommode, dem Küchenschrank, dem Tisch, unter dem Bett, zwischen zwei Büchern und im Kühlschrank. Er wollte sicher gehen und unter keinen Umständen verschlafen, immerhin fuhr sein Zug um 9.21 Uhr ab Aachen – also quasi mitten in der Nacht.
Nusselein trank noch ein Glas Wein, dann ging er ins Bett und löschte schnell das Licht:
»Gute Nacht Incitatus! Gute Nacht Mama! Gute Nacht Daddy! Gute Nacht John-Boy! Gute Nacht Mary Ellen! Gute Nacht alle miteinander …«
Warum sollte bei diesem Scheißwetter einer draußen seinen Hund ausführen?
***
Sechster Tag – Sonntag, 9. Februar
6.00 Uhr
Charly Nusselein schlief keine halbe Stunde am Stück. Dauernd wurde er wach, starrte auf einen der Wecker und ließ sich dann wieder stöhnend in sein Kopfkissen fallen. Incitatus murrte gestört.
Um 6 Uhr sprang er aus dem Bett, stellte alle Wecker ab und zog sich an: Als City-Look für Weltmetropolen entschied er sich für eine schwarze Jeans und ein blaues Hemd. Letzteres verwarf er wieder, da Schwitzflecken auf Blau am ehesten sichtbar werden. Weiß erschien ihm da schon sicherer. Auch bei den Cowboystiefeln legte er sich auf eine eher unauffällige Variante fest. Lediglich ein Pork Pie als Kopfbedeckung bildete einen leichten Ausflug ins Gewagte, wenn man einmal von Columbos Mantel, diesem angeblich guten Stück aus dem Hollywood-Fundus, absieht. Er schaufelte Incitatus zwei Schüsselchen mit »Royal Canin« voll und verabschiedete sich von seinem Kater wie ein Mann, der eine verdammt lange Reise vor sich hat. Als Incitatus den Mazda aufheulen hörte, kroch er unter die noch warme Bettdecke.
Um halb acht parkte Nusselein seinen Wagen in der Tiefgarage neben dem Bahnhof – sein Zug fuhr um 9.21 Uhr:
»Besser fünf Minuten zu früh, als eine Minute zu spät«, murmelte er und ließ sich im »Zeitcafé« in der Bahnhofshalle einen Kaffee bringen. Um 9 Uhr stand er schon mit seinem winzigen Arztkoffer (eine Unterhose, ein paar frische Socken, ein Hemd, eine Zahnbürste) auf dem Bahnsteig.
»Besser eine halbe Stunde zu früh, als eine Minute zu spät.«
Diesmal war seine Zeitangabe korrekt. Na ja, fast korrekt.
***
09.30 Uhr
Gottfried Zimmermann war nach einer nächtlichen Eingebung zwischen Traum und Wirklichkeit noch einmal nach Roetgen gefahren. Irgendetwas hatte er übersehen – das sagte ihm sein Bauch. Nein, nein, Hunger war es nicht, denn selbst nach einer Frühstücksportion Trevvel, der traditionellen Nordeifeler Mehlspeise mit Milch, Speck und Eiern, war das Kribbeln hinter dem Bauchnabel geblieben.
Mit seinem Taschenmesser durchtrennte er lässig wie Charly Muhamed Huber das Kripo-Siegel an der Tür und ging noch einmal durch alle Räume.
Was hatte er übersehen?
Es roch noch immer wie in einer Räucherkammer. Der Kommissar setzte sich auf einen Stuhl und schaute sich in dem Wohnzimmer um. Nichts! Hier war einfach nichts, was einen Verdacht in irgendeine Richtung lenken konnte. Der Kommissar ging nach draußen und sah sich noch einmal die Zahlen 18 und 88 mit dem angeblichen Neonazi-Hintergrund an.
Plötzlich fiel sein Blick auf den Briefkasten.
Er hob den Deckel und fingerte mehrere Briefe und das Gemeindeblatt der katholischen Kirchengemeinde raus. Offensichtlich hatte der Briefträger in den letzten Tagen die Post weiter zugestellt. Vier Briefe legte der Kommissar auf den Küchentisch. Er wusste, dass er diese ohne richterliche Genehmigung nicht
Weitere Kostenlose Bücher